6. Januar 2013

Pick Up Depression

Es war 16:00uhr als mich gestern mein Telefon weckte. Mein Schädel hämmerte und ich fühlte mich als hätte mich jemand mitten in der Nacht aus dem Bett geholt. Ich schleppte meine müden Knochen also zum Telefon um dem Störenfried Manieren beizubringen. Es war Wing2. Er klang besorgt, aber auch kontrolliert, als hätte er vorher darüber nachgedacht, was er mir jetzt sagen würde. „Das muss ein Ende haben.“ sagte er unverhältnismäßig ernst für einen Anruf bei Jemandem der immer noch zur Hälfte Restalkohol statt Blut in den Adern hat „Das kann so ja nicht weitergehen. Das ist ja auch nicht gut für deinen Körper was du da machst. Das geht jetzt ein halbes Jahr. Du musst das jetzt endlich mal machen. Einmal einfach durchziehen, damit du wieder normal denken kannst.“
„Ja ich weiß. Du hast recht. Ich komme irgendwie keinen Millimeter weiter. Es ist als hätte ich einen Berg Müll abgetragen und darunter eine verschossene Tür gefunden. Und die bekomme ich einfach nicht auf. An der hängt anscheinend so viel bei mir, dass ich sie irgendwann mal so fest verschlossen habe, dass ich sie jetzt nicht mehr auf bekomme. Ich bin mir ja sogar ziemlich sicher, dass ich nicht wirklich auf One-Night-Stands abfahre. Aber was mich so fuchsig macht ist, dass ich es beim besten Willen nicht mal hinbekomme es einfach mal auszuprobieren. Sobald ich merke, dass ich den Move jetzt machen könnte werde ich wie starr. Ich spüre da deutlich eine Grenze und ich kann es nicht leiden, wenn ich merke, dass ich etwas einfach nicht kann. Zumal ich ja auch gar nicht verstehe, was mich da so furchtbar abhält.“ antworte ich und taste nebenher halbblind in meinem Küchenschrank nach einer Aspirin.
„Ja, ich sag doch: Du musst dich jetzt einfach einmal dazu zwingen. Wenn deine Energie noch reicht, geh heute Abend nochmal alleine raus und nimm die Erste mit, die nicht schnell genug wegläuft. Du musst das einfach hinter dich bringen. Am besten gehst du alleine. Dann sind Wing1 und ich nicht dabei und du fühlst dich vielleicht weniger beobachtet. Und vergiss die Stammbar. Da kennt uns jeder, dass ist scheiße.“ sagt er, immer noch in einem viel zu ernsten Ton für meinen schwachen Magen.
„Du hast so recht. Aber heute geht bei mir echt nichts mehr. Ich bin komplett tot.“ murmle ich kraftlos.

Nach dem Telefonat durchwühle ich meinen Kleiderstapel nach meinem Geldbeutel. Sein kompletter Inhalt beläuft sich auf drei Euro und eine Taxiquittung. Verfluchte Scheiße ich habe gestern 70 Euro versoffen. Für manchen vielleicht normal, aber in Berlin und in den Clubs in denen ich mich gestern rumgetrieben habe lässt das auf eine enorme Menge an Alkohol schließen. „Du solltest anfangen dein Geld lieber für Nutten auszugeben“ macht sich mein zynisches Hirn angeschwipst über mich lustig „das wäre gesünder und du hättest mehr Sex“.

Was war passiert am Abend davor? Ganz einfach: Nichts war passiert. Wie immer. Wie seit Monaten. Wie seit Beginn meines abstrusen Projektes. Absolut nichts. Und langsam gehen mir dafür auch die Ausreden aus. Ja ich suche eigentlich nach der „richtigen“ nach jemandem für eine Beziehung blablabla und ja, die zwei Ladys gestern waren keine Models und eher Notlösungen aber warum können andere Kerle das einfach ausblenden und eben mal einen wegstecken und ich dagegen Quatsch meinen „Notlösungen“ die Ohren voll bis sie klatschnass willig und zu allem bereit sind und stehe dann auf und gehe? Woher kommt diese Blockade in mir?

Ich war mit Wing2 durch diverse Bars gezogen und als sich endlich ein mögliches Target in einem 2er-Set direkt vor mir an die Bar setzte, hatte ich nicht reagiert. Und als ich gerade anfing mich innerlich dafür auszuschimpfen hatte Wing2 drei Schritte nach vorne gemacht und schnell mal nebenbei die hübscheste Blondine der Bar angequatscht. Leicht gefrustet hatte ich mir das ganze dann eine halbe Stunde angesehen als ich plötzlich eine recht bekannte Berliner Prominente sturzbetrunken auf einem Stuhl tanzend entdeckte. Als der Druck zu groß wurde, musste ich dann doch Wing2 und seine blonde Schönheit unterbrechen um ihn auf diese Attraktion hinzuweisen. Der Erfolg meiner großartigen Wing-Aktion war dann der, dass seine Blondine sich kommentarlos in die andere Ecke der Bar verabschiedete. Wie sich herausstellte war sie wohl mit besagter Promi-Braut da. Bäm! Der Pick-Up-Killer hatte wieder zugeschlagen. Kurz und tödlich. Ich hatte es tatsächlich geschafft meinem lieben Wing binnen Sekunden ordentlich die Tour zu vermasseln. Ich fühlte mich wie der größte Pick-Up-Loser der Welt. Als mein Wing, fleißig wie er ist, es nach einer halben Stunde geschafft hatte, die Blonde ein weiteres Mal anzulabern und offensichtlich wieder im Geschäft war, floh ich zusammen mit meinem Frust und meiner Enttäuschung in den Regen und in den nächstgelegenen Club.

Dort angekommen konnte ich zwei Mädels entdecken, die ich wirklich gut fand. Eine kleine Blonde, die mit ihren Freundinnen am Tanzen war und eine echte Indie-Schönheit, höchstens 22 und eine Hardrock-Version der ganz jungen Uschi Obermaier inklusive Smokey-Eyes und toupiertem Hinterkopf. Uschi wär's gewesen. Uschi wär's wirklich gewesen. Die HB9 die man gamen sollte. Aber dafür immer noch zu feige, ging ich zu Blondie und holte mir prompt einen (schon lange nicht mehr gehabt) der ganz fiesen Einfach-Wegdreh-Körbe ab. Autsch! Der war fies. Aber ok, das hatte ich heute auch nicht anders verdient. Auf den Dämpfer drehte ich einige Runden durch den Club und landete schließlich auf einem Sofa neben einer Australierin mit blonder Cleopatra-Frisur und Barbara-Streisand-Nase. Die Dame war lustig, aufgedreht und extrem empfänglich für mein Game. Wir waren binnen kürzester Zeit bei einer brodelnden Mischung aus extrem sexuellen Themen und offenem, direktem Flirten. Sie hing mir stellenweise förmlich am Hals und das auch noch auf einem Sofa in der Ecke des Clubs. Hier wäre mit absolut tödlicher Sicherheit mindestens ein Kiss-Close drin gewesen. Eigentlich wäre er Pflicht gewesen. Irgendwann fragt sie mich, ob ich noch einen guten Club wisse, wo sie danach noch hingehen könnte. Hallo !?!? Jeder halbwegs geistig anwesende Kerl hätte den Sack hier zu gemacht. Aber nicht ich. Ich entdecke Wing2 neben der Tanzfläche. Sage ihr, ich würde das mal kurz mit meinem Kumpel besprechen müssen, stehe auf und lasse das Mädel, auf das ich jetzt sicher 30 Minuten eingequatscht habe, vorgewärmt und willig auf dem Sofa zurück.

Ich quatsche mit Wing2, lasse mir von seinem Blondie und seinem Number-Close berichten und gehe natürlich nicht wieder zu meiner Australierin aufs Sofa. Wing2 erträgt es nicht lange in dem Laden. Er war eh nur auf der Suche nach mir hier reingestolpert und verabschiedet sich daher bald. Ich tanze noch eine ganze Weile und verlasse, als die Tanzfläche nur noch einstellig bestückt ist, den Laden. Checke die Stammbar, stehe vor verschlossener Tür, lerne zwei betrunkene Goth-Kids kennen die ebenfalls vor verschlossener Tür stehen und schleppe beide in den einzigen Club, in dem zu dieser morgendlichen Stunde noch was los ist. Dort fällt mir eigentlich nur ein tätowiertes kleines Rockabilly-Mädel auf, das mit einem jungen Skinhead an der Bar sitzt. Nach zehn Minuten stößt ein Schönling zu den beiden und spannt dem Mann ohne Haare binnen kürzester Zeit das Mädel aus, bis dieser sich von der Bar verzieht. Ich setze mich an seinen Platz, ringe mit dem Gedanken ihn zu rächen und die Ehre der kahlköpfigen Männer zurückzuerobern, beobachte die Beiden einige Zeit und erkläre die kleine für verloren und mich mal wieder für zu feige.

Stattdessen setze ich mich kurzer Hand zu ihrer (es ist nicht zu übersehen, dass die zwei zusammengehören) etwas weniger spannenden Freundin, die allein an einem Tisch sitzt. Ich wiederhole mein Spiel aus dem letzten Club nach Schema-X. Das Mädel wird nach allen Regeln der Kunst zugetextet bis sie mir aus der Hand frisst und die Krümel danach von meinen Fingern leckt. Ihre kleine Freundin kommt zwischendrin mit ihrem Schönling zu uns an den Tisch und flüstert kurz mit ihr. Nachdem die zwei wieder aufgestanden sind erklärt sie mir, ihre Freundin hätte darum gebeten, sie jetzt schnell hier rauszubringen, da sie sonst mit dem Dream-Boy mitgehen würde. Sie bleibt aber sitzen und beschäftigt sich weiter mit mir. Irgendwann meine ich zu ihr sie solle vielleicht doch besser nach ihrer Freundin sehen (ich HORST). Wir gehen zur Bar und finden beide knutschend. „Siehst du, sooo geht das“ sagt mein Hirn und zeigt mit nacktem Finger auf mich „schau dir das mal genau an. Man nennt es Eskalieren.“ Es ist inzwischen sicher schon 9 und ich laufe nur noch auf Notprogramm. Ich tausche Nummern mit meinem Ersatz-Mädchen, gehe mit allen Dreien nach draußen, wo es bereits taghell ist und setze mich kommentarlos in das erste Taxi. Der Schönling bleibt bei den zwei Mädels. Keine Ahnung wie die Nummer für ihn zu Ende ging. Vielleicht mit einem Dreier?
Ich fahre allein nach Hause. Ich schlafe allein ein. Ich wache allein auf.

Wing2 hat recht. Das kann so nicht weitergehen. Irgendetwas muss sich radikal ändern. So hat das Ganze keinen Sinn.


Elia

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