14. Juni 2014

Den Letzten beißt die Türe tot

Ich sitze mal wieder fast zwei Stunden zu früh in Berlin Tegel und trinke ein überteuertes Bier. Klassiker eigentlich. Beim Fliegen ist es bei mir so, dass ich entweder meinen Flug verpasse, oder völlig abgehetzt, einige Stunden zu früh, vor dem Gate sitze und mich darüber ärgere, warum zur Hölle ich eigentlich so sinnlos früh los bin. Die Antwort kenne ich allerdings schon lange. Ich bin ein mittelmäßig neurotischer Kontrollfreak. Ich gehe manchmal morgens mehrmals zu meiner Wohnungstür zurück, um zu checken, ob ich auch wirklich abgeschlossen habe. Nicht, dass ich es schon jemals vergessen hätte. Genauso chronisch malträtiere ich von innen mein Türschloss drei bis vier Mal, bevor ich abends ins Bett gehe. Es muss abgeschlossen sein. Ich habe den Zwang, gegen meine Kühlschranktür drücken zu müssen, bevor ich die Wohnung verlasse. Ich rede mir ein, dass ich es tue um Wohnungsbrände zu vermeiden (lange Geschichte!), aber die Wahrheit ist, ich tue es, weil es ein Tick ist; ein Kontrollzwang. Ich hasse Risiken wie die Pest. Das Risiko, sich auf einen neuen Menschen einzulassen, das Risiko, mit einer fremden Frau nachhause zu gehen, und das Risiko sich normal pünktlich auf den Weg zum Flughafen zu begeben. Alles purer Horror für mich. Letzteres hat aber zumindest ein Gutes. Ich muss jetzt irgendwie Zeit überbrücken und komme so endlich mal wieder dazu, ein wenig zu schreiben.

Das mit meiner fehlenden Risikobereitschaft war nicht immer so, bilde ich mir ein. Es scheint im Laufe meines Lebens langsam zugenommen zu haben. Früher war ich anders. Da bin ich mir jedenfalls relativ sicher. Als ich vor 15 Jahren nach Berlin kam, zog ich in eine Wohngemeinschaft mit einer meiner Ex-Freundinnen und ihrem aktuellen Boyfriend. Damals muss ich so ängstlich wie ein römischer Gladiator gewesen sein. Ich meine, HALLO!! Wie todesmutig kann ein Mensch denn noch sein? Mit einem Pärchen zusammenzuziehen ist ja schon aus der Abteilung 'Extremsport für Lebensmüde', aber dann auch noch mit einer Exfreundin? Dagegen ist Bungee-Jumping ja eine Entspannungsübung, oder was? …Nun ja... Gut überlegt war es zumindest nicht, soviel kann ich verraten. Aber es war auch irgendwie lustig. Mit besagter Frau habe ich jedenfalls, im Gegensatz zu fast allen anderen meiner Verflossenen, noch Kontakt; und sogar ziemlich guten. So guten, dass sie mich vor ein paar Wochen zu einer kleinen Party zu sich und ihrem neuen Lebensabschnittsgefährten einlud. Eigentlich hasse ich Partys von Menschen, die mit ihren Partnern zusammenwohnen. Man kommt sich als Single immer vor, als säße man mit den anderen Singles am Kindertisch, während die Erwachsenen sich über Balkonpflanzen und Küchenmöbel unterhalten; und darüber dass ja jetzt die total richtige Zeit wäre, in Berlin eine Wohnung zu kaufen, von wegen Altersvorsorge und Inflation und so, und dass man ja auch immer noch an ein extra Zimmer für den Nachwuchs denken sollte und so weiter. Man sitzt dann meist da, hört sich den ganzen Dreck an, erinnert sich daran, wie man mit ihr oder mit ihm früher tagelang schlechtes Dope in der Acrylbong geraucht, WORMS-III auf der Playstation gezockt und sich dabei abwechselnd Nutella- und Käse-Toast in den Mund gestopft hat, bis man Bauchschmerzen hatte oder einer eingeschlafen war. Dann fragt man sich, was passiert ist, was sie, er oder man selbst wohl falsch gemacht hat, wie es so weit hatte kommen können. Man hört langsam auf zuzuhören, was beim Immobilienkauf zu beachten ist. Man nickt nur noch interessiert, trinkt immer schneller und hofft, dass der Alkohol endlich anfängt zu wirken.

Da ich die letzten drei Einladungen der beiden Turteltäubchen allerdings bereits ausgeschlagen hatte, inklusive der Einweihungs- und einer Sylvester-Feier, musste ich auf diese Party wohl oder übel gehen. Meine stille Hoffnung bestand darin, dass meine ehemalige Mitbewohnerin zumindest ihren Drogenkonsum in ihr Erwachsenendasein hatte retten können, und daher wahrscheinlich genug Fluchtmöglichkeiten in diversen Aggregatzuständen vorhanden sein würden. Drogenliebhaber schaffen es ab einem bestimmten Alter nämlich gelegentlich ihren Konsum auf eine seltsam spießbürgerliche Art in ihren Kinderwunsch-Einbauküchen-Akademiker-Alltag zu übertragen, und so lag, als ich auf der Party ankam, auch tatsächlich eine bunte Auswahl an Pülverchen und Pillen, angerichtet wie frisches Obst auf kleinen Tellern und Schalen, in der Mitte des riesigen Wohnzimmertisches. Eine bunte Truppe aus Mitt- und End-Dreißigern saß darum herum, nippten an ihren Bierchen, plauderten angeregt und ließen sich von ausgewählter Minimal- und House-Musik aus dem Nebenzimmer beschallen. Ich wurde herzlich empfangen, mit einem Bier bestückt, und eingeladen, mich doch an allem Anderen einfach zu bedienen. Ich lehnte, bis auf das Bier, alles dankend ab. Aus irgendeinem Grund rede ich mir schon mein ganzes Leben ein, keine besondere Affinität zu Drogen zu haben, und werde doch in regelmäßigen Abständen eines Besseren belehrt. An diesem Abend sollte ein weiterer Strich auf diese Liste kommen.

Ich setzte mich zu zwei Mädels, mit denen ich auch sofort ins Gespräch kam. Es war nett, aber weder war eine der beiden attraktiv genug, noch war das Thema spannend genug, um mich auf längere Sicht an meinem Platz zu halten. Ich begab mich also nach einer guten halben Stunde auf einen Rundgang durch die Wohnung. In der Küche angekommen, schnappte ich mir noch ein Bierchen und gesellte mich zu einer Gruppe whisky- und rotwein-schlürfender Mediendesigner, die wie hungrige kleine Kinder um den Herd herum standen und Tierbetäubungsmittel aufkochten. Als ich mich gerade mit dem Hausherren über seine neueste GLENLIVET-Einzelfass-Abfüllung unterhielt, wurden wir von einer jungen Kindergärtnerin mit glasigen Augen und ohne Frisur unterbrochen. „Sag mal, hast du für das Ketamin nix besseres als den Teller?“ platzte sie in unsere Fachsimpelei. „Doch klar. Ich hätte so ne Duftlampe, aber da war schon Öl drin“ antwortete mein neuer Whisky-Freund. „Ach das is doch voll witzig, ey!“ quietschte die junge Pädagogin entzückt „Is bestimmt total lecker! Vanille-Keta! Hihihi.... Vanille-Keta, ey...!“. Ich spürte ihren knochigen, kleinen Ellenbogen in meiner Seite und stellte mir vor, wie die kichernde Frau mit den früchteteefarbenen Strick-Klamotten Montag wieder Kinderlieder im Sitzkreis singen würde. Wahrscheinlich englische oder französische, auf speziellen Wunsch der Eltern. Sicher alles so hochgezüchtete, mehrsprachige Prenzlauerberg-Kinder; mit japanischen Geigenlehrern, Kinder-Joga-Gruppen, niedlichen Retro-Latzhosen und so schönen nostalgischen Namen wie bei der Hitler-Jugend. Aber jetzt kratzte sie erstmal angetrocknetes Pulver vom sonnengelben Ikea-Teller und strahlte, als wäre schon wieder Weihnachten oder der erste Tag der Fusion.

Das Küchen-Grüppchen folgte dem heißen Teller mit den frischen Drogen durch die Wohnung, wie die drei Könige dem Morgenstern und ich trottete als letzter hinterher, um nicht allein in der Küche zurückzubleiben. Im Wohnzimmer begann die Hälfte der Anwesenden sofort mit dem Ketamin-Abendmahl, während ich beschloss, zum hundertsten Mal auszutesten, ob es wirklich, wirklich, wirklich immer noch eine dumme Idee ist, Whisky in Fassstärke und Bier parallel zu trinken. Es war immer noch eine dumme Idee. Der Alkohol tat also das, was er nunmal am besten kann, und so war mein Geist bald willig und mein Fleisch schwach, und als das nächste mal die kleine Platte aus irgendeinem geschnittenen Edelstein mit dem silbernen Röhrchen vorbeikam, fragte ich nur „Was ist das?“.

Die Substanz wurde mir weder als Crystal noch als Ketamin vorgestellt und fiel damit für mein Suff-Hirn inzwischen unter die Rubrik 'Zum Verzehr geeignet'. Der Vorteil an Speed zu Alkohol ist, dass man wieder ziemlich nüchtern wird und noch mehr trinken kann. Der Nachteil an Speed zu Alkohol ist, zumindest nach meinen bisherigen Erfahrungen, dass ich meist absurd gierig nach beidem werde und dazu neige, es in hohen Dosen gegeneinander 'anwirken' zu lassen um herauszufinden, wer gewinnen wird. So gab ich mich also nicht mit einmal Abtauchen zufrieden, sondern fuhr auf dem lustigen Bergkristall eine gute Runde Slalom. Danach besorgte ich mir natürlich mehr Bier, setzte mich zu einer anderen Gruppe an den Tisch und begann das Buffet durchzutesten. Zu meinem neuen Bier servierte man mir ein Tortenstück Ecstasy. Zum nächsten wieder Speed und zum nächsten wieder Ecstasy. Die Zeit begann gefährlich zu rasen. Als ich kurz auf die Uhr sah, war es bereits Fünf. Vor mir saß ein Typ, der mir seit gefühlten Stunden von dem Buch 'Die Kunst des klaren Denkens' vorschwärmte und mir dazu, als ich wieder aufsah, euphorisch eine hellblaue Pille vor die Nase hielt. „Ja, danke“ sagte ich, nahm ihm die Pille ab und segelte damit Richtung Badezimmer. Vor dem Spiegel rief ich mich zur Ordnung, befahl mir, jetzt möglichst schnell die Wohnung zu verlassen, um noch etwas von der Nacht zu haben, vielleicht eine Frau kennenzulernen, zumindest aber diesem Zeitstrudel zu entkommen. Ich spürte, wie Logik und Vernunft in mein Hirn zurückkehrten. Sie sahen sich dort um, und dann gegenseitig lange und erschrocken an. Wie ferngesteuert wusch ich mir das Gesicht, nahm ein Viertel der Pille und steckte den Rest ein.

Auf dem Weg ins Wohnzimmer, nahm ich direkt meine Jacke mit, um gar nicht erst auf dumme Gedanken zu kommen. Ich verabschiedete mich schnell von meiner Ex-Mitbewohnerin, ihrem Boyfriend und dem Mann mit dem 'klaren Denken', winkte einmal in die Runde und verließ die Wohnung. An der frischen Luft erreichte ich ungeahnte Geschwindigkeiten. Die Stadt bewegte sich wie ein Laufband unter meinen Füßen hindurch. Ich setzte meine Kopfhörer auf und war im Handumdrehen an der U-Bahn. Ich fuhr quer durch die Stadt in mein gewohntes 'Revier'. Dort angekommen lief ich drei Clubs ab, aber für die üblichen Locations war es bereits zu früh am Morgen. Also machte ich mich auf den Weg zu einem kleinen Technoschuppen, von dem ich wusste, dass dort mit Sicherheit noch genug los war. Es war inzwischen bereits taghell auf der Straße, aber ich feierte sowieso schon die großartige Musik in meinem Kopf, mich selbst und die Welt. Als mich kurz vor dem Club ein grinsender spanischer Tourist stoppte, nur um mir in schwer verständlichem Englisch ein Kompliment für meinen beschwingten Gang zu machen, bemerkt ich, dass ich mittlerweile mehr tanzte als lief, und das wahrscheinlich auch schon seit der U-Bahn. So ist das also mit dem Selbstbewusstsein. Inner-Game schwappt irgendwann nach aussen, wissen wir ja. Und dass man Inner-Game eben auch durch die Nase ziehen kann, war hiermit erwiesen.

Ich tanzte also noch die letzten Meter bis vor den Club und stellte mich in der warmen Morgensonne vor die wummernde Eingangstür. Der Türsteher blinzelte kurz ins Freie, winkte mich ran und drückte mich dann wie die letzte Dosen-Sardine in den, immer noch brechend vollen, kleinen Club. Die Tür schloss sich wieder und es gab keinen Zentimeter Platz mehr um mich herum. Die Luft war warm, feucht und roch nach Schweiß und Parfum zu gleichen Teilen. Eigentlich musste man sich gar nicht bewegen, die Masse drückte einen einfach weiter und zuckte dazu im Rhythmus. Als ich an der Bar vorbeigeschoben wurde, konnte ich ein Bier ergattern und ließ mich damit weiter bis zur Tanzfläche treiben. Dort strandete ich in der Nähe des DJs, eingeklemmt zwischen einer Gruppe zappelnder Mädchen, einem kleinen Mauervorsprung, einem Barhocker und einem riesigen Typen mit Pumperbrust und V-Ausschnitt bis zum Bauchnabel. Erstmal musste ich dem Gorilla mit meinem nettesten Lächeln klar machen, dass ich nicht vorhatte, ihm Weibchen, Baum oder Status abspenstig zu machen, dann erkämpfte ich mir ein wenig Platz zum Tanzen.

Ich hatte meinen Spaß, freundete mich mit den mich umgebenden Sardinen und dem Gorilla an, und tanzte, bis es langsam leerer im Club wurde. Der letzte Rest eingefangene Nacht entwich mit jedem Mal, das sich die kleine Tür öffnete und die Sonne in den Club schien. Einer nach dem anderen stolperte und schwankte, allein oder in Begleitung, gen Tür und hinaus in den Tag. Irgendwann waren wir zu wenige, die sich weigerten sich, diese Nacht und ihre Suche nach irgendwas oder irgendwem, aufzugeben. Das Licht ging an und der DJ legte die letzte Platte auf. Als dann auch noch die Musik der seltsamen Mischung aus Tinnitus, heiseren Stimmen und dem Klirren der leeren Gläser wich, machte sich das finale Grüppchen, gefolgt von meiner Wenigkeit, wiederwillig und kiefermalmend auf den Weg nach draussen. Ich verabschiedete mich vom Türsteher und stolperte als einer der letzten aus dem Club. Vor der Tür stand die kleine, tapfere Legion der Übriggebliebenen. Sturzbetrunkene Mädchen suchten nach den besten, noch halbwegs ansehnlichen, Männchen. Grummelnd sammelten sich Paare und Grüppchen, um sich Taxen zu teilen; nachhause, ins Bett oder ins Berghain. Schlafen, ficken oder weitermachen.

Ich stand einfach nur da und starrte vor mich hin. Ich wurde zwei mal gefragt, ob ich in einen Club mitfahren wolle, dessen Namen ich noch nie gehört hatte. Ich verneinte kurz. Die Taxitüren knallten und wir wurden schnell weniger. Aus einem der Taxis stieg, ungefähr zehn Meter vor mir, ein Mädchen wieder aus, bevor der Wagen schwungvoll wendete und davon fuhr. Entweder hatte sie es sich anders überlegt, oder sie war von ihren neuen Freunden aus dem Taxi geworfen worden. Sie blieb einige Sekunden unsicher stehen und starrte auf die Stelle, an der gerade noch der urinfarbene Mercedes stand. Dann drehe sie sich zu mir, blickte auch mich einige Momente mit leeren Augen an, und begann dann, unter größeren Schwierigkeiten, langsam auf mich zuzugehen.

Sie hatte dunkelbraune Locken und trug ein fast bodenlanges, buntes Kleid. Ihr Zustand war kaum zu übersehen. Es grenzte an ein Wunder, dass sie nicht hinfiel, bis sie bei mir war. Ich redete gerade noch mit einem Typen über den ominösen Club, in den die meisten jetzt gegangen waren, als sie sich neben mich stellte. Erst stand sie nur schwankend da, dann lehnte sie sich wortlos an mich und drehte sich dann so vor mich, dass sie, mit dem Kopf an meiner Schulter schon halb in meiner Jacke verschwand. „Äh,....Hi!“ sagte ich in die dichten Locken „wer bist du denn?“. Sie stellte sich als Jana vor, nahm meine Hand und zog mich dann murmelnd einige Schritte weiter, bis wir vor einem Fahrrad standen. „Dasssismeinfahrrad“ kommentierte sie den Ortswechsel kurz und starrte mich dann wieder lange und erwartungsvoll an, währenddessen ihr zwei mal die Augen zufielen. „Du kannst aber auf keinen Fall mehr Fahrrad fahren“ sagte ich. Sie nickte kurz und lehnte sich dann wieder an mich. Ich überschlug die Situation, meinen Zustand und ihren Zustand. Ich wusste, was die meisten Typen an meiner Stelle wahrscheinlich tun würden und fühlte mal wieder diesen unangenehmen Erwartungsdruck an mich selbst. „Jetzt komm schon, Alter“ versuchte ich mich innerlich zu motivieren „morgens in solche Läden zu gehen, aber keine komatösen Frauen vögeln zu wollen, ist doch so schwachsinnig wie bei Germanys Next Topmodel zu kandidieren, wenn man gar keine Kurzhaarfrisur haben will. Na los jetzt! Mach schon!“.
Ich sah noch einmal an Jana herunter. Meine Entscheidung fiel anders aus.

„Ich ruf dir jetzt mal ein Taxi, oder?“ sagte ich in die Locken an meiner Schulter. Sie versuchte es wieder mit Alleine-stehen, sah mich etwas irritiert an und antwortete „könnnntenn wirnichteinfach zu dir, oder so?“. Ich spürte, wie der Druck noch mehr zunahm. „Nein, ich glaube das ist keine gute Idee“ erklärte ich langsam „schau mal, du bist wirklich sehr betrunken. Ich bin auch sehr betrunken und ausserdem... Weißt du Jana, vielleicht hat dir das heute noch keiner gesagt, aber... du blutest irgendwie an der linken Hand“. Sie blickte überfordert auf ihre blutverklebten Finger, sah mich wieder mit diesen Fragezeichen in den Augen an, überlegte kurz und streckte ihren Kopf dann etwas näher an mein Ohr. „Ok. ...Ichhwerde dann malsssehen, ob mich einer dieser jungen Herren da drüben mitnimmt“ lallte sie und nickte in Richtung des Clubs „das willssstdu sicher nicht mit ansehen“.

Ohne ein weiteres Wort drehte sie sich um und balancierte, den linken Arm aristokratisch abgewinkelt, auf die fünf Gestalten zu, die vor der Tür des Clubs standen. Ich wartete bis sie angekommen war und machte mich dann auf den Weg zur nächsten U-Bahn. Als ich die Kreuzung überquert hatte, blieb ich doch nochmal stehen und drehte mich um. Irgendwie wollte ich zumindest sichergehen, dass Jana nicht auf der Bank vor dem Club schlafen würde. Ich beobachtete die Verhandlungen und als ich sah, dass sich schließlich ein Pärchen ihrer annahm und die Drei zusammen losgingen, machte auch ich mich auf den Weg nachhause.


Die Situation vor einem Berliner Technoclub morgens um 10 ähnelt auf amüsante Weise der, auf dem Datingmarkt ab Mitte Dreißig. Niemand ist mehr wirklich fit, man merkt allen an, was sie hinter sich haben und die meisten nehmen, was sie noch kriegen können. Jeder hat seine Treffer kassiert und manche haben Narben davongetragen. Das große Risiko besteht jetzt nicht mehr darin, jemanden zu Fragen, ob man gemeinsam nachhause geht. Das Risiko liegt nun darin, auf diese Frage mit Ja zu antworten. Für manche kann diese Hürde gigantisch werden.

Als ich aus der U-Bahn ausstieg, rief ich meinen ältesten Freund an. Wir kennen uns schon seit der Schule und er war der einzige, den ich mich um diese Uhrzeit anzurufen traute und dem ich meinen Rede-Flash zumuten wollte. Wie erwartet, war er wach und bereits hochaktiv. Er und seine langjährige Freundin packten gerade ihr Rucksäcke für eine sonntägliche Pärchen-Wanderung mit ihren Bekannten. Da prallten mal wieder Welten aufeinander. Aber wenn mich jetzt noch jemand verstand, dann er. „Alter, das mit dem Single-Ding.... also ich kann dir was verraten, irgendwann wird das komisch“ textete ich mit verkrampftem Kiefer in mein Handy „ich mach das ja jetzt schon fünf Jahre mit, und ich sag dir was: Bei diesen Langzeit-Singles, da gibt es eigentlich nur zwei Arten... Die einen vögeln nie und die anderen, die vögeln ständig. Und weißt du was das lustigste dabei ist? Beide sind genauso einsam...“.
„Ja, Schatz! Ja, das Moskitospray“ antwortete er „nein, dich mein ich nicht! Was hast du gesagt?“. Die Unterhaltung gestaltete sich wieder erwarten doch einigermaßen schwierig, aber er hörte sich meinen drogengetränkten Redefluss geduldig an, bis ich an meiner Haustür war. Im Treppenhaus stolperte ich natürlich noch in meine 80jährige Nachbarin, die sich bei mir ausführlich über die viel zu laute Hippie-WG im Haus auskotzen wollte. Ich konnte mich irgendwie aus der Unterhaltung winden und flüchtete, mit gefährlich großen Schritten, bis in meine Wohnung. Ich sperrte die Tür (zwei Mal) hinter mir ab und fühlte mich endlich sicher. Hier drin konnte mir dieser kranke Planet für die nächsten Stunden nichts anhaben.

Aufgeputscht wie ich war, konnte ich natürlich nicht schlafen und versuchte noch ein wenig Sex mit mir zu haben, was dank des Amphetamins in meinem Blut ziemlich kläglich scheiterte. Ein weiterer guter Grund warum ich ganz froh war, niemanden mit mittleren oder gar hohen Erwartungen mit zu mir nachhause eingeladen zu haben. Es wäre ein Trauerspiel geworden. Ich hätte mich wohl dumm stellen und tatsächlich Kaffee anbieten müssen. Aber so gab es für all das wenigstens keine Zeugen. Alles in allem war die Sache also mal wieder gut ausgegangen.



...but the drugs like me.


In den letzten Monaten habe ich noch ein paar weitere Male mit der Wirkung diverser Drogen auf mein Flirtverhalten experimentiert. Im Grunde gab es aber keine wirklich nennenswerten Erkenntnisse. Die meisten Drogen wirken nicht viel anders als PickUp. Ein Großteil der Wirkung ist einfach nur Placebo, aber kurzzeitig senkt man damit seine Hemmschwelle und steigert das Selbstbewusstsein, was natürlich auf den ersten Blick zu besseren Ergebnissen führt. Genau wie PickUp verändern aber die meisten Drogen leider das Urteilsvermögen und das Sozialverhalten, verunsichern auf die Dauer mehr als dass sie helfen und hinterlassen einen ziemlich fiesen Kater. Wichtig ist also bei Drogen, genauso wie bei PickUp, irgendwann auch wieder den Absprung zu schaffen. Wer länger dabei bleibt, wird entweder zum Opfer, oder er beginnt zu dealen, und selbst aus der Schwäche und Unsicherheit anderer Kapital zu schlagen. Wenn man den Absprung schafft und sich davon erholt hat, bleiben aber in beiden Fällen durchaus ein paar lustige Erinnerungen. Und wer sie aufgeschrieben hat, kann sich später köstlich darüber amüsieren.


In diesem Sinne: Habt Spaß, haltet die Ohren steif, und lasst euch nichts andrehen!



Elia

28. Januar 2014

How to fuck up a booty call in 10 easy steps

Berlin, Sonntag Abend halb elf. Leichter Schneefall bei minus 13 Grad Celsius. Die Frisur hält. Aber vor die Tür will trotzdem keiner...



Ich saß im Bett vor meinem neu erworbenen Fernseher und lies mich mit Schwachsinn berieseln. Ja, ich hatte mir letzte Woche so einen Zeitfresser zugelegt, ich geb's zu! Was will man machen, der Winter ist für Singles nunmal NICHT die kuschligste Zeit des Jahres, sondern eher die langweiligste. Und als stolzer Bewohner einer Kohleofen-Wohnung, kann ich euch verraten, dass man froh ist, wenn die Bude und das Bett halbwegs warm sind, und man sich nicht mehr in die Kälte und auf den Weg zur Videothek begeben muss. Während also vor mir ein verzweifelter D-Promi mit Schlamm und Insekten traktiert wurde, machte auf dem IKEA-Tisch neben mir mein Handy durch rhythmisches Vibrieren auf sich aufmerksam. Eine SMS. Es war J, die einzige Affäre, die ich in der Zeit seit meiner letzten Beziehung gehabt hatte, und damit auch die einzige Frau mit der ich in den letzten Jahren Sex hatte. Meine letzte Information zu ihr war, dass sie sich in einer On-Off-Trennung von und mit ihrem lebensunfähigen Boyfriend befand.

22:44
J: Was treibste?

Ich begutachtete kurz meine aktuelle Situation. Ich saß unrasiert, ungewaschen und stark verkatert in meinem ältesten Pyjama im Bett. Vor mir eine Bande RTL-Clowns mit Tieren im Gesicht und neben mir die sterblichen Überreste eines gequälten Industriehuhns in einer Styropor-Box. Ich überlegte, ob sich mein Zustand und meine Tätigkeit vielleicht wenigstens lyrisch ein wenig aufpimpen ließen. Da ich mich aber zu ehrlich und viel zu wenig kreativ fühlte, beschloss ich, die Informationen einfach auf ein Minimum zu beschränken, um einen halbwegs zivilisierten Eindruck zu erwecken.

22:45
Elia: Vor der Glotze hängen... Sonntags-Mood. Du so?

Einen Eimer Mehlwürmer und zwei Eimer Kakerlaken später, vibrierte mein Handy erneut.

22:47
J: Weinchen aufgemacht. Ebenfalls Sonntags-Stimmung, da ich die letzten Tage nur arbeiten war. Viel gelesen. Nun Lust auf nen Film mit Gesellschaft :)

Die Verwendung von Smileys in Textnachrichten, irritiert mich bei Frauen, mit denen ich bereits Sex hatte, immer ein wenig. Diese Doppelpunkte, Strichpunkte und geschlossenen Klammern erhalten in meinem Kopf dann häufig einen komisch sexuellen Unterton, bei dem ich mir meist nicht sicher bin, ob ich ihn mir nur einbilde, oder ob er gewollt ist. Ich war noch am Überlegen, wie ich darauf antworten solle, als schon die nächste Nachricht von ihr kam.

22:48
J: Warum wohnen wir so weit voneinander entfernt? :( Berlin mein Kind du bist zu groß

Da ich noch an der geschlossenen Klammer tüftelte, brachte mich ihre offene Klammer auch nicht viel weiter. Es klang zumindest so, als wäre ich nicht das einzige Lonely Heart an diesem arktischen Sonntag Abend. Ich berechnete kurz, wie lange die U-Bahn-Fahrt von ihr zu mir dauern würde, und ob ich in der Lage wäre, mein Schlafzimmer und meinen Köper in dieser Zeit in einen anregenderen Aggregatzustand zu versetzen.

22:50
Elia: Hm... Magste rumkommen, DVD schauen? :)

Bäm! So. Da gab's jetzt mal ne offene Klammer zurück. Von wegen der sexuellen Spannung und so... Beim nächsten mal würde mein Smiley dann sicher auch noch schelmisch zwinkern. Ja, ja... Was sie kann, kann ich schon lange... Inzwischen stand ich in meinem Zimmer. Es könnte also sein, dass es an diesem Wochenende unerwartet doch noch Sex gibt! Und zwar als Nachtisch, nach diesem seifigen halben Hähnchen. „Zähneputzen“ setzte ich schon mal auf die innere Checkliste, als mein Handy sich wieder meldete.

22:53
J: Super gerne!! Aber so kalt und so weit weg... Brrrr! Was für ne Station war es nochmal? Und du zu mir :) ???

Was wird denn das jetzt? Eine offene Klammer und drei Fragezeichen? Ich schob die Vorhänge zur Seite. Es schneite und der Wind pfiff draußen deutlich hörbar. Schon beim Gedanken wurde mir kalt. Dreckswetter! Aber Wein und Js warmes Bett klangen natürlich zugegebenermaßen nicht schlecht. Trotzdem fand ich den sich anbahnenden kleinen Machtkampf zu durchschaubar. Ich hatte ja schon ein Angebot gemacht, und schließlich bin ich ja auch kein Pizzaservice, den man Sonntag Abend mal schnell bestellt. Außerdem war ich die letzten drei Male, als ihr Beziehungsschalter mal wieder auf OFF ging, schon zu ihr gefahren. Ich mischte mir also aus Mehl, Dschungel-Schlamm, Faulheit und Stolz eine leckere Entscheidung zusammen, goss diese in eine Backform, setzte zur Dekoration eine offene Klammer oben darauf, und anschließend alles auf eine Karte.

22:56
Elia: (XXX)straße. Du bist dran! :) kommste?

Ich grübelte trotzdem weiter und war hin- und hergerissen. Hätte ich vielleicht doch einfach hinfahren sollen? Puh... Aber das ist auch ganz schon viel Action für ein bisschen Sex... Und ausserdem ist es hier so gemütlich...Und dann müsste ich ja auch sowieso erst noch duschen... Undundund... Sie ließ sich ebenfalls einige Minuten Bedenk- und Backzeit. Auch ihr Kuchen war zum größten Teil aus Faulheit und Mehl.

23:04
J: Ja da geb ich dir recht ;) aber habe es mir schon zu gemütlich gemacht und 2 Gläser Wein intus... Das müssen wir wohl vertagen. Schade. Ein Beamer wäre äußerst praktisch :)

Ich war inzwischen schon wieder in mein Bett zurückgekehrt. Eigentlich kannte ich diese Art von Ereignis ja auch bereits. Zwei Menschen, die durchaus einiges an Sympathie und die gleiche Veranlagung zur Faulheit teilen, pieksen sich nach einem eher tristen Wochenende kurz an, um zu testen, ob es ohne allzu großen Aufwand möglich wäre, ein wenig körperliche Zuneigung zu schnorren. Schließlich einigen sich beide darauf, dass zwar ausreichend Sympathie vorhanden wäre, aber die altbekannte Faulheit, die Natur und die Berliner Verkehrsbetriebe mal wieder im Weg stehen, und vertagen es auf den nächsten Versuch. Dann vielleicht im Frühling, wenn es draussen wärmer ist...

Ich antwortete nicht mehr. Nicht, weil ich beleidigt oder sauer gewesen wäre, sondern weil mein Prepaid-Guthaben auf unter 20 Cent gerutscht war und ich das Gefühl hatte, wir seien uns sowieso einig geworden. Sie meldete sich eine Minute später nochmal.

23:05
J: Würde mich freuen, dich bald mal wiederzusehen.

Vielleicht hatte sie auch ein schlechtes Gewissen. Musste sie aber gar nicht. Ich konnte sie gut verstehen. Es war ja auch scheißkalt. Und so ein Bekannter im Bett hilft vielleicht gegen die Kälte, aber eben nicht gegen die Einsamkeit. „Gute Nacht“ dachte ich mir, legte das Handy weg, machte den Fernseher aus und ging Zähneputzen.

Als ich mich nur eine halbe Stunde später vor einer Pornoseite im Internet wiederfand, musste ich dann allerdings doch mal kurz lachen.

Ich könnte jetzt natürlich noch etwas total schlaues, erkenntnisreiches über moderne Menschen, Singledasein in der Großstadt , Anonymität und unsere Gesellschaft schreiben, damit die Geschichte wenigstens am Ende so klingt, als würde man irgendwas daraus lernen können. Mach ich aber nicht. Ich bin doch nicht Carrie Bradshaw.


Also Gute Nacht ihr Wichser.


Elia


11. Januar 2014

Vom Abstoßen der Hörner

...den zwei Knubbeln, die danach übrigbleiben, der Fähigkeit zu lieben und davon, dass Hörner
nachwachsen



Etwas ausgelaugt von einer anstrengenden, aber erfolgreichen, Arbeitswoche chattete ich gestern Abend ein wenig mit meiner lieben Blogger-Kollegin Esperame über das Leben, die Arbeit und unter anderem eben auch (surprise!) über Pick Up. Und während ich mir mal wieder selbst ein Schaf zeichnete, malte Espe mir - mit Worten natürlich, anders geht das ja in einem Chat nicht – ein so schönes Bild zu diesem Thema, dass ich es euch einfach nicht vorenthalten kann, und sie hier einmal zitieren will:


Ich habe gestern einem Freund erklärt, dass Pick Up wie Reha ist.
Deswegen brauchen manche nur ein paar sportgymnastische Übungen und dann gehen sie hinaus in die Welt und sind gute Sportler.
Und andere, die bleiben in der Reha, ein Leben lang, und machen da Wettkämpfe mit anderen Patienten…
Und sie sind da vielleicht die großen Champions...

Aber es bleibt doch Behindertensport.

- Esperame Robinson


Als ich mit meinem Schaf fertig war und den Wachsmalstift weggelegt hatte, dachte ich nochmal über Esperames Bild nach. Ich fand es nicht nur saukomisch, sondern eigentlich auch, in ganz verschiedenen Bedeutungen, eine ziemlich spannende Betrachtung des Ganzen. Wenn Pick Up wie Reha ist, ist Dating dann der 'wahre' Sport? Oder ist es das Führen einer Beziehung? Das Sich-wirklich-Einlassen auf einen anderen Menschen? Ist das andere tatsächlich nur eine Vorbereitung, eine Vorstufe, bestenfalls eine Trockenübung für den richtigen Wettkampf? Ist es für manche sogar wirklich nur ein isolierter, von der Realität abgetrennter Versuchsaufbau, in dem sie sich so weit in die 'Gefahrenzone' zwischen Mann und Frau hineinwagen können, wie ihre Behinderung es eben zulässt? Eine Imitation dessen, was zwischen Menschen passieren könnte, wenn sie Gefühle füreinander hätten - aber abzüglich all der Gefahren, die diese Gefühle eben mit sich bringen würden. Abgesichert, weil es einem ja eben eigentlich doch scheißegal ist, wer das Gegenüber wirklich ist. Und sollten Gefühle auftreten, drückt man den roten Schwesternknopf und schreit laut 'NEXT'. Oder ist es die Krankengymnastik, das langsame Wiederholen der immer gleichen Übung, bis man sich sicher genug fühlt, um sich auf das wirkliche Rennen, die Beziehung mit einem anderen Menschen, einzulassen? An diesem Punkt der Überlegung schlief ich ein. Das Schaf auch.



Ich wünsche dir auch einen guten Morgen“, antwortete die Rose.


Seit ich heute morgen aufgewacht bin, lässt mich der Gedanke an die 'Dating-Reha' nicht mehr los. Ich musste an zwei andere Aussagen denken, die ich in vor einiger Zeit mal gelesen hatte. Beide beschreiben das gleiche Bild nur aus unterschiedlichen Perspektiven. Sie stammen von einem Mann und einer Frau, wobei das für die Aussagen egal ist und die Personen, bzw. die Geschlechter der Personen, austauschbar sind. Sie waren inhaltlich ungefähr folgende:

Ich will mich erst mal ausleben und später, wenn ich das getan habe, fange ich dann eine feste Beziehung an“

Ich will einen Partner, der sich ausgetobt hat und danach wirklich weiß, was er will. Anstatt einen, der mir später dann irgendwann fremdgeht“

Beide Aussagen begegnen einem in ähnlichen Formulierungen, wie ich finde, relativ häufig. Die Vorstellung dahinter ist klar. Im einen Fall beschreibt jemand, dass er sich erst mit vielen wechselnden Partnern sexuell ausleben möchte, um sich dann, wenn seine Neugier gestillt ist, auf eine feste Beziehung einzulassen. Die andere Aussage beschreibt das gleiche Bild nur eben aus einer anderen Perspektive. Hier wird ein Partner gesucht, der sich sexuell bereits ausgetobt hat und dadurch, so die Annahme, nun weniger 'anfällig' für Seitensprünge und Abenteuer, und bereit für eine treue, feste Beziehung ist. Auf den ersten Blick klingen diese Ansätze schlüssig. Doch desto mehr ich im Einzelnen darüber nachdenke, desto unlogischer erscheinen sie mir.

Die erste Aussage beschreibt jemanden, der Spaß daran hat, Sex mit verschiedenen Menschen zu haben; ohne Beziehung, und vor allem auch ohne jegliche emotionale Bindung. Und so wie ich es verstehe, macht der zweite Teil der Aussage auch nur dann Sinn, wenn man Emotionen zwischen Menschen sowohl beim Sex, als eben auch beim finden eines festen Partners, komplett außer Acht lässt. Denn diese zweite Hälfte der Aussage suggeriert, dass das Eingehen einer festen Beziehung einzig und allein eine rationale Entscheidung dieser Person ist. Dass man eine Beziehung aus Liebe eingeht, sich binden möchte, weil man sich verliebt hat, wird hier komplett ausgeblendet. Dann würde diese 'Planung' nämlich auch schon gar nicht mehr funktionieren, weil genau das - das Verlieben – eben jenseits, und oft entgegen, jeder rationaler Entscheidung passiert. Der Liebe ist es scheißegal, ob du dich 'bereit' fühlst, oder ob sie gerade in deine Lebensplanung passt. Und es ist ihr genauso scheißegal, ob du dich jetzt entschlossen hast, eine feste Beziehung zu wollen. Ob und wann dir der Mensch begegnet, mit dem du deine 'Plan-Beziehung' führen willst, und ob ihr euch verliebt, lässt sich eben weder im Voraus planen, noch ab einem bestimmten Zeitpunkt entscheiden.

Natürlich lässt sich die Ratio soweit überzüchten, dass du dir selbst, in dem Moment in dem du Gefühle für jemanden entwickelst, oder dir eine Beziehung wünschst, einfach verbietest dies zuzulassen; du gehst auf Abstand und entziehst dich der Situation. Nur: Wie ehrlich ist dieses Verhalten dir selbst gegenüber? Wie ehrlich ist es deinen Emotionen gegenüber?

Bekanntlich gibt es auch Menschen, und zwar nicht wenige wenn man mal darauf achtet, die sich einfach nur eine feste Beziehung wünschen - oder besser eine Beziehung brauchen - und so eigentlich mit jedem Menschen, den sie kennenlernen eine Beziehung eingehen können, und oft auch tun. Bei solchen Menschen geht es um die Beziehung als Konstrukt oder Lebenssituation und nicht um den Partner, die Emotionen oder die besondere zwischenmenschliche Verbindung zu ihm. Der Partner ist für solche Personen oft erschreckend leicht austauschbar; Hauptsache man hat eine Beziehung und ist nicht 'allein'. Wenn man genauer hinsieht, sind gerade solche Menschen, mit oder ohne Beziehung, in sich selbst aber oft extrem allein.

Und genau hierin ähneln sich nun die beiden Systeme wieder extrem. Der eine Mensch, der sich selbst Emotionen (oder zumindest so starke Emotionen, dass er den Wunsch verspürt, sich zu binden) verbietet, und der andere, der fast unabhängig von seinen wahren Emotionen oder dem Partner, ständig auf eine feste Bindung drängt, weil er abhängig davon ist, in einer Partnerschaft zu leben. Beide fürchten in einen Zustand zu geraten, in dem sie scheinbar die Kontrolle über ihr Fühlen verlieren. Beide haben Angst vor Verletzungen. Der eine hat Angst alleine zu sein, auf sich selbst zurückgeworfen zu werden, gezwungen zu sein, sich mit sich selbst auseinanderzusetzen. Der andere hat Angst, Kontrolle über sich und seinen Emotionen zu verlieren, verletzlich zu werden, in Teilen abhängig von den Entscheidungen und dem Handeln einer anderen Person. Beide bilden sich ein, sich frei zu fühlen. Aber beide sind unfrei in ihrer eigentlichen Abhängigkeit, ihrer Unfähigkeit, ihren Zustand gegen einen anderen aufzugeben - den Schmerz nicht riskieren, oder nicht zulassen zu können.

Der zweite Satz hingegen beschreibt den Gedanken, einen Partner zu finden, der sich sexuell bereits 'ausgelebt' hat und die damit verbundene Hoffnung, dieser würde dann weniger den Wunsch verspüren, fremdzugehen oder in der Beziehung zu betrügen. Hält dies der Realität und unseren Erfahrungen stand? Ich finde nicht. Nach meiner Erfahrung, gehen Menschen in den meisten Fällen nicht deswegen fremd, weil sie VOR der Beziehung zu wenig Partner oder Sex hatten. Sie gehen fremd, weil WÄHREND ihrer Beziehung etwas nicht stimmt, sie sich unbefriedigt fühlen, oder sich etwas zum negativen verändert hat. Es ist oft eher ein Hilferuf oder Warnsignal, dass in der Beziehung aktuell etwas nicht in Ordnung ist.

Ein anderer Grund kann sein, dass jemand sowieso das Bedürfnis oder die Veranlagung hat, mit vielen wechselnden Partners Sex zu haben. Meines Erachtens sollten solche Personen dies von Beginn der Beziehung an aber offen kommunizieren und gar nicht erst eine monogame Beziehung eingehen. Mag vielleicht sein, dass das eine Zeit lang gut geht, weil derjenige oder diejenige sich vor der Beziehung die entsprechenden 'Hörner abgestoßen' hat, aber diese Art von Horn, soviel ist klar, wird schnell nachwachsen und dann eben doch zu genau dem Konflikt führen, der hier eigentlich vermieden werden sollte.

Die Angst, in einer Beziehung verletzt zu werden, ist normal und wird mit schlechten Erfahrungen im Laufe des Lebens oft nicht kleiner. Belogen zu werden ist, gerade in einer Beziehung, wo es ja um Vertrauen geht und man sich öffnet, besonders schmerzhaft. Aber lässt sich dieses Risiko tatsächlich dadurch mindern, dass man einen Partner findet, der vor der Beziehung ein besonders ausschweifendes Sexualleben hatte? Ich persönlich wurde, wie viele andere auch, in einigen Beziehungen belogen und habe dafür oft die Schuld in mir oder der Beziehung gesucht. Antworten fand ich aber in den meisten Fällen vor allem bei einem Blick in die Vergangenheit dieser Partnerinnen und, wenn der Kontakt noch bestand, später auch bei Gesprächen über ihre Beziehungen nach mir. Meiner Erfahrung nach, gibt es einfach Menschen, die in Situationen, die für sie unangenehm sind, zu einer Lüge greifen. Diese Menschen haben das meist in früher Kindheit gelernt und nie geschafft es abzulegen. Sie haben vor allem ihre Eltern, oft ihre Freunde und später eben ihre Partner immer dann belogen, wenn es für sie sonst zu einem größeren Konflikt gekommen wäre. Ich habe diese Erfahrung allerdings sowohl mit Frauen gemacht, die vor mir viele wechselnde Partner hatten, als auch mit Frauen, die lange Beziehungen bevorzugten. Meiner Meinung nach hat dies überhaupt nichts damit zu tun, ob und in welchen Situationen ein Mensch lügt oder fremdgeht.



Adieu,“ sagte der Fuchs.


Sicher ist ja mal vor allem, dass immer alles anders kommt und so weiter. Daher kann es dem wilden Aufreißer nämlich irgendwann, bei einem beliebigen One-Night-Stand, doch passieren, dass er sich plötzlich und ungewollt richtig heftig verknallt. Vorausgesetzt, er schafft es seine Angst vor Verletzung soweit zu drosseln, dass sein Herz nach dem Club noch mit ins Taxi steigt und nicht an der Bar sitzen bleibt. Zu wünschen wäre es einigen auf jeden Fall. Und genauso kann ein anderer, der sich nach der großen Liebe sehnt, plötzlich den Spaß am unverbindlichen, fiesen, kleinen Fick entdecken. Erzwingen lässt sich beides nicht. Offen sollte man aber zumindest für alles sein.

Ich bin ja zu Beginn dieses Blogs eigentlich genau dazu losgezogen. Um eine wilde Zeit zu starten und reichlich bedeutungslosen Sex zu haben; eben um mir die besagten Hörner abzustoßen. Nicht, dass ich nie kurze Affären gehabt hätte, aber gegen die festen Beziehungen in meinem Leben, waren sie eben immer die Ausnahme. Ich dachte ich müsste das machen. Klang ja auch logisch. Aus irgendeinem Grund ist aus dem 'Abstoßen' aber nichts geworden. Vielleicht habe ich ja auch gar keine Hörner... Das würde zumindest die Kopfschmerzen erklären, mit denen ich am nächsten Morgen immer aufwache, anstatt mit der heißen Frau, die sich nur schnell verabschieden will. Vielleicht bin ich da einfach behindert. Oder vielleicht hat diese Hörner auch nicht jeder. Ich weiß es nicht. Eigentlich ist es auch egal. Denn das Abstoßen würde, so wie ich es sehe, ja auch weder mir noch jemand anderem etwas bringen. Letztendlich ist nur wichtig, dass man sich keiner Option verschließt, raus geht und offen bleibt für alles was so passieren kann. Und wenn man bisher überhaupt etwas aus meinem Blog lernen konnte, dann das:
Wenn du gerade so ganz und gar nicht danach suchst und nichts erwartest... dann, genau dann, passiert nämlich..... auch nichts.

Ja... So schaut's mal aus. Ganz schön viel Philosophie für einen Samstag Nachmittag. So, ich male jetzt jedenfalls noch ein Schaf und dann geht es heute Nacht mal wieder auf die Piste. Ich bin schon sehr gespannt, welche Überraschungen die Nacht, das Leben und die Berliner-Pilsner-Brauerei für mich bereithalten.


In diesem Sinne: Packen wir die Sache bei den Hörnern!



Elia.


1. Januar 2014

Die stille Seite des Mondes

Es ist der erste Januar 2014 und Michael Schumacher liegt im Koma. Das ist mir allerdings scheißegal. Genauso scheißegal ist es mir, dass ein fetter Kerl beschlossen hat, den Brustkrebs seiner Frau als Werbegag an die Telekom zu verticken. Alles Arschgeigen da draussen. Gott bin ich froh, dass ich keinen Fernseher hab. So muss ich wenigstens nur dafür bezahlen, dass der Kot produziert wird, aber fühle mich nicht auch noch verpflichtet, hinzusehen wenn man ihn uns vorführt. Ich klicke diese komische Fernseh-Website wieder zu. Es ist 12:30Uhr und ich bin wach. Ich war um 7:00Uhr im Bett und habe somit halbwegs ausgeschlafen. Ich habe keinerlei Kater, was wohl daran liegt, dass ich mir gestern Nacht durchgehend frustrierend nüchtern vorkam. Nüchternheit kann in manchen Momenten im Leben eines Mannes eine wirklich herbe Enttäuschung darstellen. Ich stehe auf und mache mir einen Kaffee. Ich kann mich an jede Sekunde der gestrigen Nacht erinnern. Kein Kater. Kein Blackout. Kein Exzess. Das ist neu. Das ist neu. Hurra, Hurra die Schule brennt.

Vincent kam gestern um 21:00 zu mir. Ich habe beschlossen ihn ab jetzt Vincent und nicht mehr 'Wing2' zu nennen. Ich habe überhaupt beschlossen, mit diesem beknackten Pick-Up-Sprech aufzuhören. Das ist ja scheiß-peinlich. Wie Kleinkinder, die über ihre Action-Figuren reden und kein Schwein versteht ein Wort, weil niemand alle Folgen ihrer Epileptiker-Sendung im Fernsehen dazu kennt. 'Wing2'....als hätten wir uns auch nur ein einziges mal 'gewingt'... Ich hab ihm mal nen Approach...ä …oh – dafür gibt’s kein gutes Wort - ...ach scheiß drauf, ich hab ihm mal nen Approach versaut. Das war's aber auch schon zum Thema 'Wing'. Jedenfalls kam Vincent um 21:00Uhr zu mir. Ich hatte gekocht und Kerzen angemacht und er hatte Raketen gekauft. Alles könnte so einfach sein, wenn man nur schwul wäre. Nach dem Essen gab's lecker Alkohol. Wodka. Immer abwechselnd mit Espresso. Man ist halt keine 20 mehr, und nach dem guten Essen will man eigentlich ja in seinem Sessel einschlafen. Aber nix da!

Ich hatte am Samstag schon ohne Erfolg versucht meine beginnende Erkältung mit kalter Luft, lautem Punkrock, Zigarettenrauch und viel Alkohol los zu werden. Hatte nicht funktioniert. Ich werde die Versuchsreihe dazu trotzdem nicht aufgeben. Ich bin von der heilenden Wirkung dieser Kombination immer noch fest überzeugt. Jedenfalls saß ich Vincent, mit roten Augen und roter Nase, gegenüber und schniefte in meinen Schnaps, während er mir seinen üblichen Neujahrs-Blues vortrug: Das Leben ist kurz und ungerecht. Die Frauen sind hässlich oder doof. Und der Gin schmeckt nicht, mit dem billigen Bitter-Lemon von LIDL. Ich hörte es mir an, wie man das von einem guten Freund erwartet, und sorgte gleichzeitig für permanenten Nachschub an Espresso und Wodka.

Um Mitternacht standen dann zwei Löwe-Singlemänner, einer Mitte Dreißig, einer Mitte Vierzig, auf einem kleinen Balkon in Berlin und schossen abwechselnd 'Horoskop-Raketen' auf LIDL um sich für den beschissenen Gin zu rächen. Als wir damit fertig waren, schoss sich Vincent bei der Gelegenheit auch gleich noch endgültig selbst mit einem großen Glas Wodka/Sekt ins Off. Prost. Danach stand er kichernd und besoffen vor meinem mp3-Player und spielte alte Depeche-Mode-Songs, während ich versuchte, diverse Privat-Party-Optionen abzutelefonieren, um herauszufinden, welche die beste sei. Wir entschieden uns für eine Party in einem kleinen Club in Neukölln.

Um 2:30Uhr verließen wir meine Wohnung und standen erstmal direkt auf einem Mini-Rave im Treppenhaus. Die Silvester-Party der Mädchen-WG neben mir schien sich wohl mit der Party der Jungs-WG unter mir im Treppenhaus zusammen geschlossen zu haben. Die drei Stockwerke bis nach unten waren jedenfalls ein Slalom, vorbei an betrunkenen Menschen, leeren Flaschen und Erbrochenem. Ich musste Vincent nach jeder Treppe daran erinnern, weiter zu gehen, weil er in seinem Zustand jeden, der ihm begegnete, anquatschte. Und genau dieses Programm zog er auch den kompletten Weg, inklusive U-Bahn-Fahrt, bis zur Party in Neukölln durch. Ich musste ihn von einigen Mädchen-Gruppen fast wegzerren. Jeder Pick-Up-Coach wäre stolz auf ihn gewesen. Alkohol ist eben der eigentliche Zaubertrank der sozialen Interaktion. Scheiß auf Inner-Game!

Als wir auf der Party ankamen war mir immer noch schlecht von der U-Bahn-Fahrt. Vielleicht war es auch meine Erkältung. Oder die zwei Liter Espresso-Wodka-Mischung in meinem Magen. Es war eine Gruppe alter Schulfreunde von mir dort, einige aus Amsterdam und Istanbul angereist, manche hatte ich weit über ein Jahr nicht gesehen. Ich lies mich einmal rumreichen und von jedem drücken und landete schließlich an der Bar. Ich bestellte Bier, um meinen Magen zu beruhigen. Eigentlich hätte ich doch Arzt werden sollen. Der Club war gerammelt voll und die, wohl hauptsächlich zugezogene, Studentenschaft heftig am feiern und tanzen. Es lief Old-School-HipHop. Ganz was verrücktes.

Vincent bestückte sich mit einem großen Wodka mit Eis und hing direkt am ersten Mädchen. Ich stand mit meinem Bier an der Bar und fragte mich, was heute denn mit mir los sei. Ich fühlte mich nicht nur krank sondern auch nüchtern. Eigentlich eine besonders gemeine Mischung. Ich bewegte mich ein wenig zur Musik, kam aber überhaupt nicht in Partystimmung. Nach ein wenig Small-Talk auf der Tanzfläche zog ich mich wieder an die Bar zurück. Die Nacht schien langsam zu kippen. Normalerweise hätte ich mit einer Alkohol-Dosis-Steigerung reagieren können, aber selbst darauf hatte ich nicht wirklich Lust. Ich stand weiter an der Bar und beobachtete still das bunte und laute Treiben um mich herum. Ich hatte kurzzeitig das Gefühl, alle würden ein Stück von mir zurückweichen, ich fühlte mich nicht richtig anwesend, und selbst die laute Musik und das Geplapper der Leute kam mir plötzlich extrem leise und gedämpft vor, als würde ich einen Film ohne Ton sehen. Ich sah ein Pärchen vor mir an der Bar wild knutschen und hinter ihnen die Hände der tanzenden Meute in der Luft. Ich entdeckte Vincent am anderen Ende der Bar im innigen Gespräch mit einem anderen Mädchen. Alles war irgendwie surreal und weit weg. Ich wurde kurz ganz ruhig und entspannt und fand alles richtig und gut um mich herum. Ich fühlte mich irgendwie 'NICHT' – weder gut noch schlecht – einfach 'NICHT'. Normalerweise hätte ich den Drang verspürt, mit zu machen, zu trinken, zu tanzen oder Frauen anzusprechen, ein Teil zu sein von dem großen, sozialen Autoscooter um mich herum. Für den Moment hatte ich auf nichts davon Lust und es war komischerweise auch mal völlig in Ordnung so.

Als die Musik wieder lauter wurde, war mein Bier leer. Ich bestellte mir ein neues und gesellte mich zu einem Freund, an den Rand der Tanzfläche. Vincent kam noch einige Male vorbei, wippte ein wenig mit und beschwerte sich über die Damenwelt: „Was soll der Mist? Wieso haben die eigentlich alle einen Freund oder sind verheiratet? Und wenn die alle so glücklich und vergeben sind, warum sind sie dann nicht gefälligst zuhause und vögeln?“. Er wirkte ungewöhnlich aufgedreht und voll auf sein Ziel – Frauen - fokussiert.

Um 5:00Uhr hatte Vincent, nach eigenem Bekunden, jede interessante Frau im Club angesprochen. „Der Laden ist verbrannt“ meinte er kurz und unbefriedigt. Er wollte weiterziehen. Mir war es egal und so einigten wir uns darauf, uns wieder in die U-Bahn zu begeben und in unser gewohntes Revier zu fahren. Dort angekommen, hatte Vincent Hunger und wir gingen in unsere Lieblingspizzeria. Ich war inzwischen derart nüchtern, dass ich es kaum glauben konnte, und mir war klar, würde ich jetzt auch noch etwas Warmes essen, so wäre die Nacht für mich gelaufen. Wir aßen und amüsierten uns über den lautstarken Kampf der übermüdeten Pizza-Jungs mit dem betrunkenen Berliner Partyvolk.

Danach verabschiedete ich Vincent in die Nacht. Mir war völlig klar, dass er in den nächsten Club ziehen würde. Er war noch nicht fertig mit Silvester und den Frauen. Ich wollte in mein Bett. Und das zum ersten Mal seit langem, weder auf diese betrunken-kollabierende noch auf diese frustriert-unzufriedene Weise. Ich fand es völlig in Ordnung, entspannt nachhause zu gehen, statt noch eine Bar und noch einen Club, und darin mein 'Glück', zu suchen.

Zuhause angekommen war das Treppenhaus ein Schlachtfeld. Konfetti, Luftschlangen, Bierflaschen und einiges Unaussprechliches zierten die Stufen bis zu meiner Wohnungstür. Die Tür der WG unter mir, und die Tür der Mädchen-WG standen offen und dumpfes Techno-Gewummer kam aus beiden Wohnungen. Nein, auch das wollte ich mir nicht ansehen. „Man muss seinen Nachbarn ja auch noch mal in die Augen sehen können“ dachte ich mir, und dafür sollte man es vielleicht vermeiden, ihnen morgens um 7 auf Drogen, oder kotzend über ihrer Kloschüssel, zu begegnen. Verdammt! Geht es jetzt los? Werde ich jetzt doch noch erwachsen?



Gegen 15:00Uhr meldete sich heute Vincent bei mir. Ich war bester Laune und gerade damit fertig geworden, meine Küche zu wischen und meine Wohnung aufzuräumen. „Guten Morgen“ krächzte er in den Telefonhörer. Wie es denn noch gelaufen sei, fragte ich und nippte an meinem Kaffee. Er erzählte mir kurz von dem kleinen Techno-Schuppen in dem er gestrandet sei. 'FICKN' sei dort in großen Buchstaben, aus silbernen Luftballons, über der Bar gestanden. Das E war schon zerstört gewesen. Aber der Club hatte nicht halten können, was die Luftballons versprachen. Weder Ficken, noch Fickn war für ihn drin gewesen. Beziehungsweise, drin wäre es wohl schon gewesen, aber die zwei Mädels, die ihn dort noch morgens um 9 angetanzt hätten, wären ihm einfach zu durch und zu kaputt gewesen. Er hatte sie der Meute und der Nacht überlassen. Oder wem auch immer.

Ich bin heute den ganzen Tag nicht wirklich dahinter gekommen, ob es nur meine Erkältung war, die mir so die Energie genommen hatte, oder ob dieser ganze Club-Kram einfach von mir letztes Jahr etwas überstrapaziert wurde und daher stark an Reiz eingebüßt hat. Eigentlich ist es auch egal. Ich habe mich gestern Nacht, ganz ohne Vollrausch und ohne Frau, ziemlich zufrieden in mein Bett gelegt. Eigentlich deutlich zufriedener als in vielen Nächten davor. Das könnte ja auch eine Verbesserung sein. Scheiße, oder ich werde echt erwachsen!! Ich sollte das doch lieber beobachten. Wenn es nicht wieder anders wird, muss ich es wohl mit kalter Luft, lautem Punkrock, Zigarettenrauch und Alkohol behandeln. Mit solchen Alterserscheinungen ist nicht zu spaßen.


Ich wünsche euch allen ein großartiges 2014!



Elia


24. Dezember 2013

Unfälle und andere Unfälle

 
A tear of petrol
Is in your eye
The hand brake
Penetrates your thigh
Quick - Let's make love
Before you die

- The Normal, Warm Leatherette


Ich sitze im Zug in Richtung Süden. Nicht weil mein Leben gerade so spannend und toll ist und ich von Land zu Land und Stadt zu Stadt hoppe, um die Schönheit meiner Existenz abzufeiern, sondern um mich eventuell von einem todkranken Menschen zu verabschieden. Angeblich soll einen so ein Scheiß ja zum Mann machen. Was natürlich Blödsinn ist. Wer schon einmal geliebte Menschen verloren hat, weiß, dass einen das weder zum Mann, noch zur Frau, noch zu sonst irgendwem macht. Es macht einen traurig und still; ernst und langsam manchmal. Sonst gar nichts.

Die letzten Wochen, eigentlich Monate, hatte ich wenig Lust zu schreiben. Das Thema fühlt sich irgendwie durchgekaut an. Es macht mich müde. Boy meets girl. Uralt und eigentlich tolles Thema, aber irgendwie auch weder Atomphysik noch eine Kulturrevolution. Die 'Szene' enttäuscht mich zunehmend und entzaubert sich mit der Zeit mehr und mehr selbst. Phlegmatisch und bemitleidenswert hilflos wartet ein großer Teil still und leise darauf, vom Internet und ein paar überteuerten DVDs zu einem neuen, besseren Menschen gemacht zu werden. Ein anderer Teil verkauft ihnen skrupellos dumpfes Allgemeinwissen als heilbringende Lösung, feiert sich selbst als Helden der Neuzeit, weil sie wissen, wie man das eine Ding in das andere steckt, und kassiert dafür auch noch Kohle, als hätten sie wirklich etwas geleistet. Der Rest begibt sich, auf Grund fehlender Lösungen, auf die Suche nach einem Schuldigen für ihr Elend und verteufelt dann abwechselnd die moderne Gesellschaft dafür, dass sie nicht 'Mann sein dürfen', anstatt zu begreifen, dass Freiheit wäre, nicht 'Mann' sein zu müssen, sondern man selbst sein zu dürfen, und natürlich die Frauen dafür, dass sie nicht so funktionieren wie man es sich in unreifen Jungen-Träumen, fragwürdigen Internet-Foren und konservativen Männerbünden vorstellt, sondern eben leider doch eigenständig denkende Individuen sind. Nicht zu vergessen die Handvoll emotionaler Krüppel, die ihre Angst vor Frauen, Gefühlen und Verletzlichkeit damit verstecken, dass sie zwischenmenschliche Kälte, pornografisch-mechanische, entmenschlichte Sexualität und Respektlosigkeit als erstrebenswertes Ziel, als 'befreite Sexualität' oder als 'unverschleierte, harte - aber eben ehrliche - Wahrheit' verkaufen und damit einer verzweifelten, leicht steuerbaren Gruppe junger Männer beibringen, ihre persönliche Sozialstörung sei die eigentliche Norm und der Rest der Welt sei krank, verlogen oder zumindest dumm. Am Ende feiern dann Männer, die eigentlich in die Community kamen, um eine Frau zu finden, die sie ehrlich liebt, jemanden, der in seinen Texten anderen Menschen zwar schon so ziemlich überall hin gespritzt hat, aber in dieser langen Zeit noch kein einziges Mal irgendein emotionales Interesse an anderen geäussert, sich vielleicht sogar mal verliebt, geschweige denn sich überhaupt mit Menschen jenseits ihrer Körperöffnungen beschäftigt hat. Und all das tickertackert Woche für Woche vor sich hin, ohne dass die 'Szene' es kritisiert oder wenigstens hinterfragt. Das traut sich anscheinend keiner. Kritik wird hier streng hierarchisch nur von oben nach unten verteilt. Aber 'Alpha' wollen sie dann schon alle werden. Schade eigentlich. So viel Potential. So viel Gequatsche von Mut und Aufstehen und 'für sich einstehen'... Aber die Herde schaut nur kurz auf, und lässt sich dann weiter füttern, mästen und schlachten. So, jetzt reicht's aber auch wieder... Schluss! ...Stopp!... Aus!...Willst du wohl.... Aus jetzt!! Ich wollte doch eigentlich nicht mehr so viel abkotzen... und es gibt ja auch einige echt tolle, bunte Schafe in dieser Herde, bei denen ich sehr dankbar bin, sie über diesen komischen Weg gefunden zu haben... Bin ja jetzt außerdem auch schon an Leipzig vorbei und die Landschaften werden blühender. Also zurück zum eigentlichen Thema: Die letzten Monate und vor allem ihre seltsamen Wochenenden.



Scheiße ohne Erdbeeren


Ich überholte die Straßenlaternen und mein Schatten überholte mich. Die Steinplatten bildeten unter mir seltsame Muster, während ich absurd schnell einen Fuß vor den anderen setzte. Es war einer dieser Heimwege, an die ich mich sicher morgen nicht mehr erinnern würde. Sturzbetrunken und wie auf Schienen oder Autopilot flog ich durch meinen Kiez; mein mp3-Player dröhnend laut und beide Hände in den Jackentaschen. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, aber der Himmel hatte schon dieses neonblaue Leuchten. Ich genoss den Rausch, interpretierte in jede Textzeile ozeantiefe, persönliche Bedeutung und versank in meiner Alkohol-Romantik. Ich blickte nur auf den Boden, schloss gelegentlich die Augen, sang leise mit und ergab mich ganz der gerechten Willkür der Spätsommernacht, als ich überraschend und hart mit dem Gesicht gegen ein Metallschild schlug. Genau genommen stolperte ich erst über die knöchelhohe Umzäunung einer dieser kleinen Grünflächen, die hauptsächlich dazu dienen von Hunden vollgeschissen zu werden, und fing mich dann, da ja beide Hände in meinen Jackentaschen, elegant mit dem Gesicht an dem, gegen die Grünfläche geradezu riesig wirkenden, Hunde-Verboten-Schild ab. So richtig erinnern kann ich mich eigentlich nur an das metallische Krachen; wahrscheinlich hatte ich gerade die Augen geschlossen. Nach dem ersten Schreck sah ich mich kurz um und musste zum einen feststellen, dass ich in einem kleinen Gebüsch lag und zum anderen, dass ich sonst eigentlich fast nichts sah, was da herrührte, dass ich meine Brille leider nicht mehr aufhatte und dass es auch noch ziemlich dunkel war. Ich tastete einige Minuten halbblind den Boden in meiner Umgebung ab, fand aber nichts und stand erstmal auf, um mir den Dreck abzuklopfen und nochmal nach Blut oder anderen Anzeichen einer Verletzung zu suchen. Ich stellte fest, dass ich ausser meiner Brille und meiner Coolness erstmal nichts verloren hatte und fühlte den deutlichen Impuls die Szenerie dieser Erniedrigung möglichst schnell zu verlassen. Aber das ging leider nicht. Ich konnte unmöglich meine teure Brille in diesem wahrlich beschissenen Gebüsch zurücklassen. Es half alles nichts. Ich musste zurück auf den Boden. Und das in so vielen Bedeutungen gleichzeitig.

Ich versuchte es mit Hinknien, aber so erreichte ich nur den äußeren Rand dieser urbanen Installation aus Müll, Pflanzen und Kot. Nach 2 Minuten Wühlen begann ich damit, kleine Büschel Unkraut herauszureißen, sie nach Brillenspuren abzusuchen und wütend hinter mich zu werfen. Als auch das keinen Erfolg brachte, erkannte ich, dass kein Weg daran vorbeiführte, mich wieder auf alle Viere zu begeben und tiefer in das Gebüsch zu kriechen. Ich buddelte mit beiden Händen in dem, wovon ich mir wünschte, es wäre nur Erde. Ich fluchte innerlich und schwor, hier nicht ohne meine Brille wegzugehen. Als ich neben mir Schritte hörte, und beim Hochsehen, den fragenden und gleichzeitig verächtlichen Blick des Mitte-Hipsters sah, der gerade an mir vorbeiging, wurde mir bewusst, dass es in meinem Leben wohl bisher keinen Moment gab, an dem ich näher an einem Penner war als diesen hier. 34 Jahre alt, sturzbetrunken, auf allen Vieren in einer von mir selbst gut durchgerührten Mischung aus Scheiße, Dreck, noch mehr Scheiße und einer verbogenen Designer-Brille – so blickte ich also von unten auf das neue, coole Berlin. Und es ging ohne zu stoppen, oder sich noch einmal umzudrehen, an mir vorbei. Wäre ich besser drauf gewesen, hätte ich ihm sicher etwas Schlaues hinterhergerufen. Aber ich war ja damit beschäftigt, Unkraut, Erde und Hunde-AA blind nach der jeweiligen Konsistenz zu sortieren. Ich hatte also deutlich wichtigeres zu tun. Die guten ins Töpfchen, die schlechten hinter mich auf den Gehweg...

„Was ist ihnen denn passiert?“ fragte mich die Frau in dem kleinen Brillengeschäft am nächsten Nachmittag. „Sagen wir, ich hatte einen kleinen Unfall“ antwortete ich und versuchte sie, mit dem einen Auge unter- mit dem anderen über dem Brillenrand, zu fixieren. Erst als ich wieder in meiner Wohnung war und das Ergebnis ihres halbstündigen Biegens in meinem Spiegel prüfen wollte, entdeckte ich die riesige, rote Beule auf meiner Stirn. Ich legte meine Brille ab, und mich wieder ins Bett, zog mir die Decke über den Kopf und lies der Welt den ganzen restlichen Samstag Zeit, mich ausgiebig am Arsch zu lecken.



Last Minute Resistance
Oder: So sind wir Männer eben...


Es war eine der letzten Nächte, die noch sommerlich genug war, dass sich das schwarzgekleidete Grüppchen Menschen vor statt in meiner Stammbar aufhielt. Kaum bog ich um die Ecke, hörte ich schon das liebliche Klirren von Bierflaschen, die laute Musik und das angenehme Gegrummel von vielen betrunkenen Menschen, die sich dummes Zeug erzählten. Als ich mich den dunklen Gestalten auf 10 Meter genähert hatte, hörte ich meinen Namen. Wing3 kam mir, so freudig und so torkelnd wie ein Kleinkind, entgegen gestolpert, fiel mir um den Hals und drückte mir eines der zwei Biere in die Hand, aus denen er offensichtlich vorher abwechselnd getrunken hatte. Er lallte mir dazu irgendetwas völlig unverständliches und nasses ins Ohr, das ich als überschwänglich freundliche Aufforderung interpretierte, sein halbvolles Geschenk anzunehmen und mit ihm zu feiern. Ich lobte ihn, wie man eine Katze lobt, die einem einen toten Vogel vor die Füße legt und nahm glaubwürdig dankbar einen tiefen Schluck des warmen Speichel/Bier-Gemischs. Der Abend versprach jetzt schon spaßig zu werden.

Mein treuer Wochenend-Freund zog mich sofort die letzten Meter bis vor die Bar und stellte mir schwankend zwei Mädchen vor. Eine davon war die kleine, rothaarige V, die er mir schon bestimmt vier Mal im letzten Jahr vorgestellt hatte. V hatte, seit sie sich von ihrem DJ-Freund getrennt hatte, fürchterlich angefangen zu koksen und ihre offen zur Schau gestellte Supercoolness lies darauf schließen, dass sie auch heute Abend schon reichlich Näschen gepudert hatte. Ihre Freundin kannte ich nicht, aber sie wirkte nicht weniger abwesend. Wir wechselten trotzdem die üblichen Inhaltslosigkeiten, während ich mein halbes Bier vernichtete. Dann packte mich Wing3 auch schon wieder am Arm. „Los! Wir gehen rein!“ frohlockte er, zog mich bis zur Tür, stoppte dort, blickte nachdenklich auf sein Bier und an sich herunter und meinte dann, als sei ihm die Lösung eines schwerwiegenden Problems eingefallen: „Moment. Das geht so nicht...“. Daraufhin zog er sich vor mir, der versammelten Gemeinde vor der Bar und dem verdutzten Türsteher erst die Hose herunter, goss sich dann sein restliches Bier über den Kopf, kommentierte dies kurz und hochzufrieden mit „so. jetzt.“ und marschierte in kleinen Schritten mit seiner Hose an den Knöcheln an mir und dem Türsteher vorbei in den Laden und direkt an die Bar um sich ein neues Bier zu bestellen. Ich wartete gespannt auf die Reaktion des Türstehers. Als mich dieser nur vergnügt angrinste und meinte „na dit kann ja noch lustich werdn, wa?“ wusste ich mal wieder, warum dieser Laden meine Stammbar ist.

Ich folgte also dem Beispiel des biergetränkten Freaks und bestellte mir neben ihm am Tresen ebenfalls ein neues Erfrischungsgetränk. Allerdings behielt ich meine Hose dazu an. Dafür fühlte sich der langhaarige Barkeeper anscheinend um so inspirierter von Wing3 und entledigte sich, bevor er mir ein Berliner über den Tresen schob, seines Hemdes. Ich befürchtete schon es würde mal wieder zu einer allgemeinen Entkleidungswelle in der Stammbar kommen, aber dafür war es wohl noch zu früh am Abend. Auch Wing3 erkannte die bewegungstechnischen Einschränkungen seiner Entscheidung, die Hose um die Schuhe zu tragen, und zog sich nach einigen Minuten des coolen am-Tresen-Lehnens, die Hose wieder hoch. Hatten ja jetzt auch alle mitbekommen. Wir tranken und spaßten uns im weiteren Verlauf des Abends immer wieder kreuz und quer durch die Bar, bis wir schließlich, wie zwei müde Krieger nach der Schlacht, auf einer Bank in einer Ecke strandeten. Wing3 zeigte deutliche Ausfallerscheinungen, während ich noch relativ aktiv war und in der Sorge, meinen tapferen Kameraden an den bösen Flaschengeist zu verlieren, nach einer kurzen Erholungspause versuchte am Tresen Leitungswasser zu bekommen, um ihn vor dem herannahenden K.O. zu bewahren. Als ich endlich mit dem großen Glas Wasser vor ihm stand, war er leider bereits dem Türsteher aufgefallen. In für ihn typischer Pose lag er, halb auf seinen Ellenbogen gestützt, mit offenem Mund und geschlossenen Augen, quer über der Bank und erinnerte wie immer an ein Kriegerdenkmal auf einem beliebigen Soldatenfriedhof. Ich hatte ihn so schon einige Mal, und auf den unterschiedlichsten Untergründen, liegen sehen. Es war immer wieder wahrlich ein Bild für Götter. Doch noch bevor ich etwas sagen konnte, nahm der sonst so friedliebende Türsteher Wing3s Nase zwischen seine Finger und zog ihn an dieser nach oben, bis Wing3 ihn mit aufgerissenen Augen anstarrte. „Weest ja was wa ausjemacht ham, oda? Wenn de penn' willst jeste Heim!“ erklärte der Türsteher dem verwundeten Kameraden kurz und zog sich dann an die Front zurück. Zumindest musste ich ihn jetzt nicht mehr wecken.

Ich legte sofort meine Schwesternuniform an, zog mir die kleine, weiße Haube auf und nahm die Erstversorgung des immer noch verwirrten Kollegen vor. Nach ein paar Schluck Wasser kam er halbwegs zu sich. Doch statt ihn nach Hause zu schicken, was ich wahrscheinlich hätten tun sollen, begann ich ihn zu überreden, mit mir weiter in Club1 zu ziehen. Zu meiner Überraschung war er zwar nur schwer in der Lage das Wasserglas ordentlich zu halten, zeigte sich aber von meinem Vorschlag in den Club zu gehen sofort absolut begeistert. Er ist eine wahrlich tapfere Seele. Gott segne ihn.

Ich half ihm auf und wir verabschiedeten uns von dem finstren Ort und machten uns gemeinsam auf den Weg in den Nächsten. Der Club war erstaunlich leer. Einige letzte versprengte Grüppchen fielen und tanzten quer durch den Laden, aber die Schlacht war wohl bereits geschlagen und die Massen schon auf dem Weg in die Betten, um ihren Rausch auszuschlafen oder diesen komischen 'Sex' zu haben von dem immer alle reden. Ein Blick auf die Uhr erklärte mir die Situation. Es war kurz vor 6, und Club1 nicht für die längsten Parties bekannt. Wing3 steuerte quer über die Tanzfläche ein altes, ekliges Sofa an als wäre es ein frisch gemachtes Bett. Ich beschloss erstmal die Bar zu besuchen, um mir ein feines, kleines Bierchen zu genehmigen. Als ich zurückkam und mich dem Rand der Tanzfläche näherte fielen mir zwei Mädels auf. Sie tanzten relativ nahm am DJ-Pult und passten beide nicht so ganz zu dem für Club1 üblichen Publikum. Die eine war groß und blond, die andere extrem klein und dunkelhaarig. Beide waren sehr schlank und für Club1 etwas zu prollig gestylt. Die Kleine fixierte mich schon von weitem und kam, als ich sie ansah, direkt auf mich zugesteuert. Sie packte mich am Arm und zog mich auf die Tanzfläche. Als jemand, dem so etwas vielleicht alle zehn Monate mal passiert, reagierte ich leicht überfordert. Ich tanzte zwar ein wenig mit, tat aber vor allem das, was ich immer tue, wenn ich nicht weiß wie ich reagieren soll: Ich fing an zu reden. Und in Ermangelung angemessener Reaktionszeit natürlich auch gleich noch ziemlich dummes Zeug.

Elia: „Na, ihr gehört doch eigentlich gar nicht hier her?“

Einmeterfünfzig: „Hä? Wie meinste denn das?“

Elia: „Na ihr zwei gehört doch eigentlich eher ins XXX(prolliger Teeny-Hardrockschuppen).“

Die Mädels flüsterten und kicherten.

Einmeterfünfzig: „Ja, stimmt. Da sind wir auch immer. Aber das is ja nur Donnerstags.“

Ich tanzte noch eine Weile mit ihr und redete ähnlich inhaltsfreien Dünnschiss. Die Kleine stand ganz eindeutig auf mich. Ich sah sie mir nochmal genauer an. Man will ja schließlich keine voreiligen Entscheidungen treffen. Sie war wirklich winzig, schien aber einen ziemlich guten Körper zu haben. Der Rest an ihr verhieß allerdings keinerlei Gemeinsamkeiten mit meiner Welt. So weit ich mich erinnere hatte sie ein Piercing im Gesicht, ihre seltsam unechte Bräune ließ auf den regelmäßigen Besuch im Sonnenstudio schließen, die hüftlangen, glatten, schwarzen Haare schrien förmlich 'Extensions' und auch der Stil ihrer Klamotten roch irgendwie nach Arschgeweih, Golf III und Böhse Onkelz. Mädels wie sie verirrten sich eigentlich selten in kleine Kellerclubs, sondern sammelten sich normalerweise in den Großraumdissen und Jugendzentren im Brandenburger Umland oder den Touristenfallen in Friedrichshain. In meinem Kopf begann eine wilde Diskussion. Die eine Hälfte meiner inneren Stimmen plärrte, ich solle gefälligst jetzt mal die Gelegenheit beim angeschweißten Zopf packen und hoffen dass dieser hält, die andere Hälfte schüttelte ungläubig und verächtlich den Kopf über den Gedanken, mit dieser Frau alleine zu sein, geschweige denn eine längere oder auch nur kurze Unterhaltung zu führen. Ich selbst war in erster Linie mal verwundert über ihre Reaktion auf mich, da nach meiner Erfahrung Mädels wie sie eher auf tätowierte Typen mit gestählten Brustkörben, viel zu kleinen Ed-Hardy-Shirts und peinlichen Alufelgen abfahren, statt auf blasse, kleine Glatzköpfe mit Brille. Sie begann mich ziemlich eindeutig (ich hasse schon das Wort) 'anzutanzen'. Es blieb nur noch Kampf oder Flucht. Ihr kennt mich. Ihr wisst, dass ihr euch auf mich verlassen könnt. Ich wählte die Flucht.

Obwohl ich aus dem Augenwinkel beobachtete, wie Wing3 sich zwar kaum noch auf den Beinen halten konnte, aber trotzdem von zwei Mädchen gerade vom Sofa und, durch eine sonst verschlossene Tür, in den Backstage gezerrt wurde, berief ich mich darauf, meinen sozialen und gesellschaftlichen Verpflichtungen nachkommen zu müssen:

Elia: „Ähm... ich muss mal nach meinem ...äää... Kumpel... schaun.“

Einmeterfünfzig: „Ok, ich komm mit!“

Ich war irritiert. Die Realität bewies mir mal wieder zwei Dinge: Zum einen, dass dieser ganze Pick-Up-Schmonz von wegen, der Mann muss immer diesunddas machen und die Frauen lassen sich 'gamen', genau so wahr ist wie der Weihnachtsmann und zum anderen, dass es dem Universum einen Heidenspaß macht, seinen dreckigen Finger in meine Pick-Up-Wunde zu legen und dann noch genüsslich drin rum zu popeln. Jetzt hatte ich also monatelang nach einer Gelegenheit geplärrt, engeren Körperkontakt unter Alkoholeinfluss mit einer mir völlig unbekannten Person zu praktizieren, und nun als sie, winzig klein, betrunken und bereit mir zu folgen, vor mir stand ging mir nichts anderes durch den Kopf als: „Oh. Scheiße.“

Mein Hinweis darauf, dass sie aber doch mit ihrer Freundin hier sei, wurde von der kleinen, aber extrem entschlossenen Frau schweigend in den Wind geschlagen und so blieb mir nichts anderes, als mich mit ihr auf die Suche nach meinem 'verlorenen Freund' zu machen. Ich fühlte mich stark an diesen blöden Dreiteiler mit dem Ring und den scheiß Zwergen erinnert. Speziell als wir im Gänsemarsch die endlos lange Treppe in den oberen Bereich des Clubs hinaufstiegen wie einen Bergpass, und ich das beklemmende Gefühl hatte, sie würde mir jetzt auch ohne zu zögern in einen dunklen Wald folgen. Oben angekommen suchten wir meinen Freund. Das hatte ich ja schließlich so gesagt. Die Suche endete, wie zu erwarten war, erfolglos. Und so standen wir schließlich ziemlich planlos und schweigend zwischen den leeren Sitzecken voreinander. Die Barleute räumten im Hintergrund bereits Stühle, Gläser und Müll zusammen und ich blickte hilflos in Richtung meines Bauchnabels, auf dessen Höhe mich diese fremde Frau anstarrte. Es vergingen einige Sekunden und nur ein sozial völlig behinderter Idiot hätte nicht gecheckt, worauf sie wartete. Der Druck stieg. Ich wusste, ich würde im Pick Up Forum erst geköpft, dann ausgelacht, dann im Gesicht angemalt und dann gebannt, wenn ich jetzt nicht tue, was man eben tut, wenn man morgens um 7 mit einem betrunkenen Mädchen im Club steht und sie einen so ansieht.

Mir kam es ewig vor. Es fühlte sich ein bisschen an wie Sterben, nur dass nicht mein Leben an meinem inneren Auge vorbeizog, sondern eine komische Liste an Plus- und Minus-Punkten. Beide Seiten der Liste waren nicht allzu lang. Auf der Plus-Seite erschien als erstes ihr offensichtlich guter Body, gefolgt von einigen ekligen Eimern voller Erwartungen, Rollenklischees und sozialem Druck a'la 'Mann sein müssen' (Hallo Philipp Czerny!), 'Eskalieren müssen', 'Comfort Zone sprengen' und dann natürlich dem Respekt anderer Kerle in Forum, facebook und natürlich auch, nicht zu vergessen, dem 'echten Leben'. Auf der Minus-Seite meldete sich vor allem der kleine, introvertierte Kontrollfreak in mir zu Wort. Ich fragte mich, worüber ich mit dieser Frau nur jemals reden sollte? Morgen früh? Im Taxi? Auf dem Weg aus dem Club? Jetzt?... Über Rammstein-Konzerte, 'Hang-Over-III' und was man alles mit Jägermeister mischen kann? Über Tribal-Tattoos, Pfefferminzlikör, Fitnessstudios und Pauschalurlaub auf Malle? Und wie das überhaupt jetzt laufen soll?...Mein Kopf malte sich diverse Szenarien aus. Ob sie dann überhaupt bei mir pennt? Oder ob ich sie danach nachhause schicke? Wie ich jetzt überhaupt auf solche Scheiß-Fragen komme, wo doch noch gar nichts passiert ist? Und dann war sie vor allem ja ein fremder Mensch! Oh my god! Und das auf so vielen Ebenen. Wir waren uns nicht nur fremd, sondern hatten tatsächlich noch keine zehn Sätze miteinander gewechselt. Wollte ich wirklich diesen fremden Menschen in meiner Wohnung, in meinem Bett, in meinem Mund? Alle anderen wollen das doch auch immer... Und sie starrte mich immer noch so erwartungsvoll an. Dabei war ich doch noch mitten in der Minus-Liste! Ich müsste mich sowieso setzen. Ja richtig, setzen. Sie war ja viel zu klein. VIEL zu klein! Ich müsste mich ja sonst bücken! „Wollen wir uns setzen?“ ging mir durch den Kopf. Vielleicht hatte ich es auch ausgesprochen, ich weiß es nicht mehr. Aber der Moment war bereits vorbei. Das konnte man spüren und vor allem sehen. Ihr Blick war ein anderer. Die Erwartung war weg. Da war nix zu holen. Es war so verzweifelt wie blödsinnig. Zwei betrunkene Menschen morgens um 7 in einem leeren Club. Es sprach einfach nichts dafür, mit dieser Frau Sex oder sonst irgendwas zu haben, ausser der wagen Möglichkeit dazu und der Aussicht auf Reibung und Wärme. Es verband uns nichts und ich konnte für mich zumindest sagen, dass mich nichts an ihr anzog, ausser der Tatsache, dass sie der Hälfte der Menschheit angehörte, die keinen Penis ihr Eigen nennen kann.

EJECT. So heißt das ja im Pick-Up. Oder vielleicht besser 'Last Minute Resistance'? Wobei es in meinem Fall wohl eher eine 'First Minute Resistance' war. Beides ist im Pick Up leider nur für Wesen ohne Penis vorgesehen. Männer haben eigentlich gefälligst immer zu wollen. Freiheit ist irgendwie was anderes. Wir gingen zusammen wieder nach unten. Glaube ich zumindest. Die Zeit und der Alkohol haben die Erinnerung an den Abend schon etwas ausbleichen lassen. Irgendwo um die Tanzfläche herum trennten sich unsere Wege und auch Wing3 tauchte nicht mehr auf.

Ich verlies, halb frustriert, halb geschmeichelt, den Club. Zwei Häuser weiter stolperte ich in einen winzigen Gothic-Schuppen. Auf der Tanzfläche waren genau noch zwei Mädels. Beide nicht mein Fall. Ähnliche Klientel wie die beiden Tanzmäuse in Club1. Vielleicht hätte man die Vier miteinander bekannt machen sollen...Ich drehte nach 30 Sekunden um und ging wieder raus auf die Straße. Ich lief in Richtung des Absturzclubs und musste dabei über mich selbst schmunzeln. Wie unvermittelbar bin ich eigentlich wirklich? Sind meine Ansprüche tatsächlich so absurd hoch oder speziell? Hat das was mit dem Alter zu tun? Ist das die berühmte 'Verkorkstheit' der Ü-30er-Singles? Fragen über Fragen. Ich erkannte, dass nur Alkohol mir hier weiterhelfen konnte.

Im Absturzclub trank ich ein Bier und bekam Lust zu tanzen. Leider war die Musik so abgrundtief scheiße, dass ich auch diesen Laden wieder verlies und mich auf den Weg in die Hass-Bar machte. Die Hass-Bar ist ein verkokster, schmutziger, kleiner House-Schuppen in dem man aber bis in den Nachmittag hinein gut feiern kann, vorausgesetzt man schafft es die versnobten Schnösel und die dazugehörigen Blondinen zu ignorieren. Ich kaufte mir dort ein letztes Bier und stellte mich in die zuckende Menge, als ich plötzlich ein breites Grinsen auf der anderen Seite der winzigen Tanzfläche entdeckte. Es war Wing2. Ich hatte nicht mehr mit sozialem Kontakt gerechnet, und war eigentlich auch nicht mehr wirklich in der Lage dazu. Wir begrüßten uns also kurz und nickten dann nebeneinander zum monotonen Beat.

„Irgendwas scheine ich heute auszustrahlen“ dachte ich mir, als mir nach einigen Minuten auffiel, dass mich der DJ seltsam freundlich anlächelte. Als ich seinen Blick etwas fragend erwiderte, führte er mir kunstvoll pantomimisch den Konsum einer Line Koks vor. „Hervorragende Idee“ dachte ich mir „guter Mann“ und machte mich auf den langen Weg, die kurze Strecke durch die dichte Menge bis zum DJ-Pult. Dort angekommen stellte ich mich neben meinen neuen Freund. Der freute sich und begrüßte mich herzlich mit „und?“. „Ja. Los...“ gab ich ebenso ausführlich zurück und wartete auf meinen versprochenen Fitmacher. „Hast du Koks?“ plärrte der DJ mich jetzt etwas konkreter an. „Ne, ich dachte du“ gab ich zurück. Und da war er wieder. Dieser enttäuschte Blick. Ich schien in dieser Nacht einfach niemanden glücklich machen zu können. Auch aus dieser peinlichen Situation blieb mir nur die Flucht und schon wieder hinterließ ich einen Menschen, dem ich einfach nicht geben konnte, was er von mir wollte.

Ich zuckte noch eine Weile neben Wing2, dann zog es mich wieder hinaus. Ich war endlich richtig betrunken und der festen Überzeugung jetzt mein Glück im Absturzclub finden zu können. Dazu kam es allerdings nicht mehr. Ich scheiterte auf der Hälfte des Weges und winkte mir mechanisch eines dieser schönen, gelben Rettungsboote heran, das mich nachhause in mein geliebtes Bett brachte. Ob das Mädchen und der DJ in dieser Nacht noch bekamen, wonach sie sich sehnten, weiß ich nicht. Ich ging jedenfalls schlafen. Ohne Sex und ohne Koks.



Der Morgen an dem mein Gewissen begann mich zu siezen


Ich habe diesen Text auf dem Weg in die Heimat vor zwei Wochen begonnen. Jetzt sitze ich in Tegel vor dem Gate C48 und warte auf meinen Flug. Es geht wieder in die Heimat. Diesmal allerdings mit fröhlicheren Gedanken - diesmal warten Plätzchen und Whisky auf mich. Alle Kunden-Weihnachtsfeiern sind erfolgreich hinter mich gebracht und von den meisten fehlt mir das Ende und der Nachhauseweg. Mein Hang zu Blackouts hat sich in den letzten Monaten nochmal deutlich gesteigert. Inzwischen ist es für mich eigentlich fast normal, dass mir mein Gehirn, wenn ich Sonntags versuche mich an die letzten Stunden des gestrigen Abends zu erinnern, nur eine sich langsam vor sich hin drehende Sanduhr zeigt. Vor ihr schlafe ich dann meistens auch wieder ein.

Mit genau dieser schwammigen Leere im Kopf wachte ich vor ein paar Wochen mal wieder Sonntag Nachmittags auf und fragte mich kurz, wie ich gestern nur nachhause gekommen war. Was die Antwort war, hatte ich ja gerade schon beschrieben. Ich wälzte mich also die letzten Stunden des Tages zwischen Kopfschmerzen und Magengrummeln noch ein wenig im Bett hin und her und schlief dann bis Montag Mittag durch.

Ausgeschlafen und voller Energie und Tatendrang stand ich am Montag auf und machte mir einen kräftigen Kaffee. Ich schlenderte ein wenig durch meine Wohnung und entwarf einen enthusiastischen Plan für den heutigen Tag. Beim Spaziergang durch meine Wohnung schaute ich auch kurz in meinem Arbeitszimmer vorbei. Hier gibt es ein großes Fenster, an dem man prima stehen und bedeutungsvoll Kaffeetrinken kann, während man den gehetzten Lohnsklaven auf dem Weg zur Arbeit zusieht. Und genau so stand ich an besagtem Fenster und dachte mir „war das ein Fahrrad an dem ich da gerade vorbeigelaufen bin? Ein fremdes Fahrrad?“. Die Nespresso-Werbespot-Atmosphäre war schlagartig verflogen und ich drehte mich langsam um.

Tatsache. Da stand es. Ein mir vollkommen fremdes Damenrad - zwei Gepäckträger, 18Gang-Schaltung, gut in Schuss. „Holy... Mother.....fuck!“. Ich blieb zwei Minuten vor dem Eindringling stehen und versuchte mich krampfhaft an irgendwelche Bilderfetzen zu erinnern, die mir weiterhelfen könnten, diese Situation zu erklären. ...Sanduhr. Sonst nichts. Ich hatte keinen blassen Dunst, wie dieses Fahrrad in meine Wohnung kam. Aber ich hatte eine dunkle Ahnung. Meinen Hang zur Sachbeschädigung und Kleinstkriminalität dachte ich mit 15, 16 und 17 ausgiebig ausgelebt zu haben und seit dem hatte ich auch, wie es sich für einen richtigen Erwachsenen gehört, die Finger von Spraydosen, Mercedes-Sternen, und fremdem Eigentum gelassen. Aber Betrunkene sind bekanntlich manchmal wie Kinder. Und ich war immer eher ein seltsames Kind.

Ich versuchte mich so gut es ging als Sherlock Holmes und sammelte Hinweise. Die zwei auffallend großen Gepäckträger wiesen auf einen Zeitungsausträger als Opfer der Tat hin. Das würde auch das fehlende Schloss erklären. Denn so kriminell mich der Rausch der letzten Nacht auch anscheinend hatte werden lassen, Schlösser knacken gehört trotzdem nicht zu meinen Fähigkeiten. Im Laufe des Tages fand ich ein U-Bahn-Ticket in meiner Hose. Ich Arschnase hatte der armen Sau anscheinend nicht nur das Fahrrad vor der Tür weggeklaut, sondern das auch noch nur wegen dem Spaß, oder zumindest dem kurzen Weg von der U-Bahn bis zu meiner Haustür. Ich suchte weiter und fand zwei leergefressene Bäckertüten in meinem Bett. Mein Croissant-Junkietum ist grundsätzlich nichts Neues, aber es eröffnete in diesem Fall eine weitere Version des Tathergangs. Ich sah mich förmlich mit fliegenden Zeitungen und kichernd davon fahren, während hinter mir ein armes Menschlein fluchend aus einer Bäckerei rannte. Kein schönes Bild. Eine Mischung aus Scham und Ungläubigkeit bereitete mir Gänsehaut. Als ich Wing2 die Geschichte am Telefon erzählte erntete ich einen ordentlichen Anschiss. Hätte ich mir auch denken können. Der Mann ist Fahrrad-Fetischist und ich hatte praktisch ein Fahrrad entführt und aus seiner vertrauten Umgebung gerissen. Es dauerte einige Tage, bis ich ihn wieder versöhnlich stimmen konnte und er mir glaubte, dass ich das Ganze ohne böse Absichten und vor allem ohne Bewusstsein getan hatte.

Vor drei Wochen ist ein zweites Fahrrad dazugekommen. Auf die gleiche Weise. Es muss ein
Weibchen sein. Die zwei haben sich sofort verstanden. Inzwischen sind es Vier. Zu meiner Verteidigung muss ich anmerken, dass ich mich an den Einzug des vierten Fahrrads wenigstens erinnere. Wing2 hatte mich wegen der ersten drei dieses Wochenende noch einmal ordentlich zur Sau gemacht. Wir waren gerade auf dem Weg in eine neue Bar und er meinte es könne doch gar nicht sein, dass man so schnell mal einfach ein unangeschlossenes Fahrrad finde. Er sagte, er würde mir ein Bier zahlen, wenn ich bis zur Bar eins fände. Zwei Blocks weiter radelten wir schon nebeneinander her. Es war ein Jugendrad, mir etwas zu klein, und es war vorne und hinten platt, aber das war mir egal. Bis wir an der Bar waren, war selbst der Gummimantel durchgefahren. Ich bekam mein versprochenes Bier und wir tranken und amüsierten uns über das Fahrrad und sahen zu, wie vor uns eine dicke Frau auf den Tresen kletterte und völlig betrunken auf der Bar tanzte. Als wir die Bar verließen und Wing2 sein Fahrrad aufsperrte stand direkt daneben ein schönes, halbwegs neues Damenrad. – unangesperrt! Betrunkene scheinen auch das gleiche Glück wie kleine Kinder zu haben. Zumindest fällt es mir leichter, fremde Fahrräder mit in meine Wohnung zu nehmen, als fremde Frauen. Was ich allerdings mit den vielen Fahrrädern in meiner Wohnung jetzt mache, weiß ich noch nicht genau.



Join the car crash set


In den letzten Wochen dieses Jahres sind einige komische Sachen passiert. Aber vielleicht bin ich auch nur in dieser seltsamen, nachdenklichen Stimmung, in die man verfällt, wenn sich das Jahr dem Ende neigt. In meiner Post fand ich jedenfalls neulich noch ein liebes Schreiben mit herzlichen Weihnachtsgrüßen einer Anwaltskanzlei aus München, die mich wegen des Herunterladens eines Filmes mit Brad Pitt in der Hauptrolle, um 1000 Euro baten. Als würde ein normaler Mensch 1000 Euro für einen Brad-Pitt-Film zahlen! Diese Bayern...humorige Menschen. Man muss sie einfach mögen.

Es gibt manchmal so Phasen, da fühlt sich das Leben an, wie eine Aneinanderreihung von Unfällen. Man denkt ständig „Hoppla! War das jetzt meine Schuld?“ oder „Oh verdammt! Das hab ich nicht kommen sehen!“ aber nach dem dritten oder vierten Rumms gewöhnt man sich an das Quietschen der Reifen und das Geräusch von Blech auf Beton. Wie immer ist auch hier die große Kunst das Loslassen. Und nach einiger Zeit fängt man an sich zu entspannen. Unfall-Zen nenne ich das. Man wartet lächelnd auf den nächsten Aufprall und genießt den ganz besonderen Geruch von brennendem Kunstleder.

Worüber ich mir allerdings nicht mehr wirklich sicher bin ist, ob die Entdeckung von Pick Up für mich und mein Leben nun eigentlich das Eintreffen des Krankenwagens, oder nicht viel eher einen weiteren Unfall darstellt. Ohne Pick Up wäre mein Liebesleben dieses Jahr jedenfalls auch nicht viel anders verlaufen. Gevögelt habe ich nicht. Aber verliebt habe ich mich immerhin ein mal. Und das ist lustiger Weise schon ein Mal mehr, als einige bekannte Pick Up Blogger. Allerdings kann man das Verlieben natürlich auch nicht erzwingen, sondern nur zulassen.

So Kinderlein, nun werde ich mich mal zu Oma und Mutti an den Kaffeetisch begeben, bevor ich die zwei 'HBs' zur nächsten Location 'bounce', um dort die Sache mit dem Jesuskind abzufeiern. Mein Kater hat sich etwas gebessert und mein Magen könnte die Lebkuchen vielleicht behalten. Ich wünsche euch allen von Herzen ganz viel Liebe und noch andere tolle Sachen! Feiert schön, rutscht gut rein, und tut nichts, was ich nicht auch tun würde!


Elia

21. September 2013

Männer mit Taschenrechnern

Über Stochastik, Training und die Irrwege der Quantität



Ich saß die letzten Tage jeden Mittag mit meinen französischen Freunden in deren Haus am Tisch und beobachtete eine glückliche Patchworkfamilie, als wäre ich in ein Wahlplakat der Grünen gefallen. Ich habe die beiden ziemlich genau zu dem Zeitpunkt kennengelernt, zu dem sie sich auch kennenlernten und so diese Beziehung praktisch vom ersten Tag an miterlebt. Inzwischen haben sie eine Familie gegründet und leben mit ihren vier Kindern, wovon zwei gemeinsame sind, in einem wunderschönen Haus ein Bilderbuch-Familienleben. Für mich sind die zwei ein großartiger und seltener Fall dessen, was wohl 'wahre Liebe' sein muss. Alle Logistik, Wahrscheinlichkeit und Logik des Datings und der Partnerpsychologie sprachen von Anfang an völlig gegen diese Beziehung. Er lebte in einer Ehe mit einer anderen Frau, sie in einer anderen Stadt. Die beiden trennten nicht nur über 20 Jahre Altersunterschied, sondern auch enorme soziale Unterschiede, Ländergrenzen und 1000km Luftlinie. Trotzdem verliebten sie sich auf den ersten Blick und er folgte ihr, ohne Rücksicht auf die Folgen für ihn, seinen Beruf und seine Ehe zu nehmen, blind in ein anderes Land und ein anderes Leben. Heute sind sie eines der glücklichsten Paare, das ich kenne. Ihre Geschichte war zum großen Teil alles andere als 'hollywoodesk', aber immer wenn ich die beiden zusammen sehe, denke ich, dass es genau das ist, was ich und viele andere doch eigentlich suchen; eine Art 'Seelenpartner'. Aber kann man das Finden, eines solchen Partners durch Techniken oder Verhalten beeinflussen? Kann man die Wahrscheinlichkeit so jemanden kennenzulernen wirklich erhöhen?

In den letzten zwanzig Jahren hatte ich einen relativ stabilen Rhythmus, wenn es um Beziehungen ging. Meine Beziehungen dauerten alle etwas länger als zwei Jahre und dazwischen war ich meist ungefähr zwei Jahre Single. Ins Straucheln kam dieser Rhythmus erst nach meiner letzten Beziehung, nach der meine Single-Phase sich nun bald fünf Jahre hinzieht. Ich lernte die Hälfte meiner Freundinnen über meinen Social Circle kennen, die andere Hälfte in Clubs, Bars oder auf Konzerten. Vor etwas mehr als einem Jahr begann ich zu überlegen, ob es nicht eine Möglichkeit gäbe, diesen Rhythmus zu beeinflussen und die Chancen zu erhöhen, wieder ein Mädchen mit 'Girlfriend-Potenzial' kennenzulernen. Ich entdeckte Pick Up. Und die Idee schien nicht nur für schnellen Sex, sondern auch für die Suche nach einer Beziehung, auf ihre männlich-logische Art so einfach, wie mathematisch richtig zu sein. Wenn man in ungefähr gleichen Abständen, in denen man bisher ja ungefähr die gleiche Anzahl an Frauen kennengelernt hatte, ein Mädchen findet, in das man sich verliebt und mit dem man eine Beziehung führt, dann müsste sich genau diese Zeitspanne, zwischen den Beziehungen, doch verkürzen lassen, indem man einfach die Anzahl der Mädchen, die man kennenlernt erhöht. Das hatte für mich Hand und Fuß. Es war Mathematik, simple Wahrscheinlichkeitsrechnung.

In den ersten Tagen meiner 'Pick-Up-Recherche', faszinierten mich vor allem all die verpassten Chancen, die mir durch den Kopf gingen, während ich mir Daygame-Videos auf Youtube reinzog. Jeder von uns kennt das tolle Mädchen, das heute Mittag auf der Straße an einem vorbeiging, oder in der U-Bahn gegenübersaß. Jeder kennt das grummelige Gefühl, während sie aufsteht und an der nächsten Station aussteigt, oder man sich noch einmal umdreht, und sie hinter der nächsten Häuserecke verschwinden sieht. Wenn man nun tatsächlich all diese Mädchen anspräche, dann müsste doch schon nach kurzer Zeit genau das passieren, was sonst eben erst nach zwei Jahren passiert, wenn man durch Zufall auf der Party die neue Mitbewohnerin der kleinen Schwester einer Bekannten vorgestellt bekommt. Ich war geflashed!

Ich begann zu rechnen. Wie viele Frauen, die ich interessant fand, hatte ich denn bisher über meinen Social Circle, meine Arbeit oder in Clubs ungefähr pro Jahr kennengelernt? Wie viele in zwei Jahren? Dies musste doch dann die magische Zahl sein! Ginge ich also davon aus, ich hätte durchschnittlich ungefähr 20 tolle Frauen pro Jahr kennengelernt, dann müsste ich also doch nur vor die Tür gehen und die nächsten 40 Frauen, die mir wirklich gefallen, ansprechen und schon hätte ich mit hoher Wahrscheinlichkeit die Telefonnummer meiner nächsten Freundin in der Tasche. Nach 80 Frauen wäre ich praktisch nahezu mit Sicherheit verliebt und bald in einer neuen Beziehung! Quod erat demonstrandum!

Ich habe nun ein Jahr Pick Up hinter mir. Ich habe in dieser Zeit sicherlich so viele fremde Frauen angesprochen, wie sonst in vier oder mehr Jahren. Trotzdem war eigentlich nur ein Mädchen dabei, das mich, zumindest eine Zeit lang, wirklich fesseln konnte. Woran liegt dieser Fehler in der Dating-Mathematik? Ich lesen in Foren von Männern, die täglich zehn oder mehr Frauen auf der Straße ansprechen, die fast jeden Tag ein Date 'absolvieren', die sich keine Chance mehr, ob in der U-Bahn oder der Metzgerei, entgehen lassen. Trotzdem liest man erstaunlich lange von diesen Jungs. Sie freuen sich über ihre ersten Telefonnummern und später ihren ersten 'Fuck-Close'. Doch sehr oft beginnen sie nach einiger Zeit zu jammern, oder zumindest klingt etwas seltsam melancholisches in ihren Tagebüchern und Reports durch, wenn sich die erste Euphorie gelegt hat. Denn nicht alles lässt sich so direkt und einfach erhöhen, wie die Zahl der Telefonnummern in ihren Handys. Und einige bemerken, dass sie eigentlich etwas anderes gesucht hatten. Es ging nie um 70 Telefonnummern. Es ging nie um die verwaschene Erinnerung an das Rumgemache im Club letzte Nacht. Es ging immer um das eine Mädchen. Warum lässt sie denn so lange auf sich warten? Warum lässt sich das anscheinend eben nicht so leicht erzwingen, oder beschleunigen wie die beiden anderen Resultate? Wo liegt der Denkfehler?



Sargen auf dem Alexanderplatz - Die Evolution frisst ihre Kinder und spuckt sie wieder aus


Lustigerweise wird gerade im Daygame, wo einige Jungs wirkliche Approach-Feldzüge über Stunden hinweg führen, diese Problematik besonders deutlich. Hier gibt es wesentlich seltener ein spielerisches Annähern und lange Gespräche, geschweige denn ein Kennenlernen über Freunde oder durch den vermeintlichen 'Zufall'; hier wird meist schnell, direkt und zahlreich genumberclosed. Trotzdem bleiben gerade hier die Ergebnisse recht überschaubar und selten geht jemand nach 80 Approaches mit einer neuen Freundin nachhause. Häufig liest man aber gerade im Daygame von Training, von Übung, davon 'gut darin' zu werden, Frauen anzusprechen. Steigert also die häufige Wiederholung dieses Vorgangs nicht nur einfach die Wahrscheinlichkeit jemand wirklich tollen kennenzulernen, in dem sie schlichtweg die Anzahl der Menschen erhöht die wir ansprechen, sondern bringt uns die häufige Wiederholung eine Art 'Trainingserfolg'? Werden wir sicherer, 'besser' im Kennenlernen und im Ansprechen? Und wenn ja, ist das ein Vorteil? Erhöht das wirklich die Erfolgschancen im Einzellfall, oder verringert es lediglich unser unangenehmes Gefühl dabei?

Ich war nie ein großer Freund der Evolutionspsychologie und den daraus hergeleiteten Flirtstrategien à la Mystery und Co. Aber wenn wir deren Logik betrachten, so suchen Frauen vor dem Sex vor allem die innere Sicherheit, dass der Mann wirklich an ihnen interessiert ist, bei ihnen bleibt und sie somit nicht Gefahr laufen, im bösen, dunklen Dschungel mit dem Kind ihres Traummannes alleine gelassen zu werden und tragisch zu Grunde zu gehen. Damit erklärt dieser streng darwinistische Teil des Aufreißer-Zirkus all die gemeinen Shittests, Spielchen und LMRs, die ihnen von Frauen auf ihrem Weg zur nächsten Bettkantenkerbe in die Speichen geworfen werden. Es geht der holden Weiblichkeit also darum, unterbewusst zu testen, wie ernst es den Jungen Werther wirklich erwischt hat; wie verwirrt er ist, wenn er vor ihr steht. „You`ve hijacked my brain“ nennt besagter Mystery die Botschaft, die der Angebeteten im Idealfall vermittelt werden soll.

Nun liest man bei Daygame-Coaches wie Sasha Daygame oder Tom Torero immer wieder vom, für diese These sehr interessanten Effekt, dass gerade völlige Neulinge, wenn sie ihre ersten zittrigen, unsicheren Approaches machen, meist erstmal eine überraschend hohe Trefferquote erzielen und fleissig Nummern kassieren. Woher kommt das? Widerspricht das nicht der ganzen Idee von 'Trainingssets um warm zu werden', vom regelmäßigen sargen gehen und vom gut und besser und noch besser werden? Müssten diese Noobs, diese 'AFCs' und 'rAFCs' nicht eigentlich durch ihre Unsicherheit erstmal total abkacken bei den Mädels?

Spannend wird dieser Effekt, wenn man sich noch einmal den vorherigen Gedanken aus der Evolutionspsychologie ansieht und dazu ein wenig in Pick-Up-Foren blättert. Ziemlich zahlreich finden sich hier allzu fleissige Daygame-Soldaten, die nach einer passenden Antwort suchen, auf die immer häufiger auftretende Frage ihrer Targets, ob sie so etwas denn häufiger machen würden. Denn wie einigen aufmerksamen, jungen Pick-Up-Helden bereits aufgefallen ist, sind Mädchen (entgegen dem, was manche wilden Manipulations-Strategien suggerieren) leider nicht dumm und merken durchaus, ob jemand seltsam sicher und entspannt auftritt, während er etwas so unangenehmes und 'unnormales' tut, wie eine fremde Frau auf offener Straße anzusprechen um ihr zu gestehen, dass er einfach nicht anders konnte und ihr sagen musste, wie wunderschön und interessant sie aussieht. Toll für ihn, dass er das jetzt so entspannt kann. Doch nach 150 Approaches, hat er leider etwas verloren, das blutige Anfänger seiner Sportart eben noch haben: Nervosität.

Genau diese Nervosität vermittelt dem jungen Mädchen, das gerade noch überlegt, ob der fremde Typ sie hier nur bumsen oder gar verarschen will, oder ob er das wirklich ernst meint und er sie wirklich so bezaubernd fand, dass er sie wie ferngesteuert ansprechen musste, eine Sicherheit. Die Sicherheit, dass er das offensichtlich wirklich zum ersten Mal tut und die Sicherheit, dass er anscheinend selbst ziemlich von der Situation überfordert ist. Die Sicherheit, dass er sie nicht nur verarschen oder bumsen will, dass es ihm ernst ist, und dass er das nicht schon den ganzen Nachmittag über macht und sein freakiger Coach in zehn Metern Entfernung an einer Hauswand lehnt und sich Notizen zu seiner Körpersprache macht. Die Sicherheit also, dass er keiner von diesen 'Pick-Up-Artists' aus dem Internet ist, von denen sie gelesen hat, sondern der nette, junge Kerl, auf den sie vielleicht wirklich schon lange gewartet hatte. Doch statt dessen wirkt er gar nicht nervös, sondern entspannt, locker und so ausgeprägt unneedy, als würde er fast schon nach der Nächsten Ausschau halten. Das ist es, was sie zurecht misstrauisch macht.
Die Evolutionspsychologie hat erfolgreich funktioniert, das Mädchen davor bewahrt, ein Field-Report zu werden, und genau an dieser Stelle hat sich der fleissige kleine Artist mit all seinen 'Übungssets' und Trainingsstunden schön selbst ins Knie geballert. Oder wie er wahrscheinlich inzwischen sagen würde 'gecockblockt'.



The Answer Is You


Ein anderes Wurmloch in meiner eisern logischen Datingmatrix war, dass sie natürlich einen uralten, staubigen Effekt der Psychologie ausblendet. Der Suchende kann nur finden, wenn er mit sich selbst im Reinen ist. Es gibt eine Million Gründe, warum wir single sind und die wenigsten sind extern. Die meisten Gründe liegen in uns selbst; dein größter Feind bist immer du.

Nach einer längeren Beziehung und einer wahrscheinlich schmerzhaften Trennung brauchen wir Zeit, um uns wieder zu regenerieren, Frieden mit uns und unserem Leben zu machen. Ein deutlicher Hinweis darauf, dass etwas wirklich im Argen liegt, ist wenn Menschen ständig von einer Beziehung in die nächste wechseln, oder manisch von einem Bett ins nächste springen. Diese Menschen sind offenbar nicht in der Lage mit sich selbst allein zu sein und benötigen aus irgendeinem Grund immer das Feedback und die Bestätigung durch einen anderen Menschen oder eine Beziehung. Es ist also richtig und wichtig, dass wir nach einer Beziehung meist nicht in der Lage sind, uns auf eine neue Beziehung einzulassen. Selbst wenn wir uns eine neue Partnerschaft wünschen, benötigen wir einige Zeit, um wieder dafür bereit zu sein. Dies strahlen wir, ob wir wollen oder nicht, natürlich aus. Häufig sind aber gerade diese Fälle auch diejenigen, die am verbissensten und verzweifeltsten suchen. Und auch diese Tatsache trägt natürlich nicht zum Erfolg der Suche, sondern nur zum Gegenteil bei.

Ein anderer Punkt, der uns aus uns selbst heraus ausbremsen kann und häufig durch schwierige Trennungen oder Beziehungen entsteht, sind Angst, Zorn oder Misstrauen gegenüber dem anderen Geschlecht. Niemand geht ohne Narben aus Beziehungen und über die Jahre werden diese natürlich mehr, aber wenn wir Gefühle wie diese aus alten Beziehungen mitnehmen und es nicht schaffen, sie abzuschütteln, dann sabotieren diese, ob wir wollen oder nicht, unsere nächsten Beziehungen oder machen es schlichtweg unmöglich, jemanden kennenzulernen oder eine Beziehung einzugehen. Andersherum strahlen wir diese auch aus und unser Gegenüber wird, bewusst oder unbewusst, ein Problem haben, sich auf uns oder eine Beziehung mit uns einzulassen. Es ist also immens wichtig, sich nach einer Trennung genug Zeit zu geben, um nicht mehr wütend zu sein, sich selbst und seinem Ex-Partner zu vergeben und die Angst vor Verletzungen abzulegen.

Noch schlimmere Sabotage an sich selbst betreiben Zeitgenossen, die durch ihre Partnerschaft, die Trennung, oder die Partnersuche danach, Frustration, Zorn oder gar Hass gegenüber dem anderen Geschlecht aufgebaut haben. In der Pick Up Community laufen sie uns praktisch täglich über den Weg und wir alle kennen den ekligen Unterton ihrer Kommentare, wenn es um Frauen geht. Dass eine Beziehung mit solch einem frustgeladenen Frauenhasser weder lange funktionieren kann, noch irgendeiner Frau zu wünschen ist, versteht sich von selbst. Was diese Art von Jungs aber schon lange nicht mehr bereit sind zu verstehen, ist dass sie nicht nur Frauen für ihr, mit einer völlig anderen Frau erlebtes, Leid und ihre Frustration büßen lassen, sondern vor allem sich selbst damit strafen. Früher oder später haben sie sich in ihrer Spirale aus Hass und daraus resultierendem Scheitern so weit nach unten gebombt, dass ihnen nichts weiter mehr bleibt, als sich mit anderen wütenden Kerlen, mit genauso roten Gesichtern, in eine Ecke, oder wahlweise eine Facebookgruppe zurückzuziehen und gemeinsam beleidigt und gekränkt vor sich hin zu hassen, oder sich ganz doll selbst leid zu tun, weil die Welt und die Frauen so ungerecht zu ihnen sind. Oft entwickeln sie ein wüstes, ritterliches Selbstbild einer rachesuchenden, maskulinen Speerspitze der letzten 'wahren Männer', in Wahrheit sind sie aber das Traurigste, was das männliche Geschlecht, in der Auseinandersetzung mit dem weiblichen, hervorgebracht hat.

Im Pick Up würde es wohl alles unter 'Inner Game' laufen: Selbstbewusstsein, Selbstliebe und die Einstellung, eine tolle Frau und eine Beziehung mit ihr nicht nur zu verdienen, sondern auch finden und ebenbürtig führen zu können. Diese Einstellung fehlt aber vielen von uns und es ist nicht leicht, sich das einzugestehen und noch schwieriger, es zu ändern. Solche Probleme lassen sich weder in einem netten Wochenend-Workshop noch in einem kurzen Coaching beseitigen. Um daran zu arbeiten brauchen wir oft Jahre, viel Energie und meist einen guten Therapeuten.

Viel wichtiger als alles Sargen, Training, die tollen Opener, Körpersprache, Zaubertricks und NLP-Fingerspielchen ist es offen, angstfrei und ohne Feindbild mit Frauen umgehen zu können. Wer vollgestopft mit der Angst vor Shittests, reichlich Erfolgsdruck und Gruppenzwang, billigen Routinen und frustgetränkten Psycho-Macht-Spielchen auf Frauen zugeht, wird über die Telefonnummer oder die erste betrunkene Nacht nie hinwegkommen. Nur wenn wir uns selbst lieben, kann sich jemand anderes in uns verlieben. Nur wenn wir uns selbst die Beziehung mit einer tollen Frau zugestehen, der ehrlichen Überzeugung sind, dass wir sie verdienen, werden wir in der Lage und wirklich bereit sein, diese auch zu finden.



Väterchen Zufall, Mütterchen Romantik und ihre drei schwulen Söhne


Pick Up hat viel mit vermeintlicher Kontrolle zu tun; Kontrolle über sich selbst, über seine Gefühle und vor allem Kontrolle über andere und deren Gefühle. Der sehr unreife Gedanke, mit der richtigen Technik alles im Leben kontrollieren zu können, die gottgleiche Machtphantasie mancher Pick-Up-Helden, ignoriert die alte Weisheit, dass das meiste im Universum durch Zufall geschieht. Für manche fühlt es sich freundlicher an, den guten Zufall Gott, Mohammed, Game oder Gerechtigkeit und den schlechten Zufall Satan, Pech oder Schicksal zu nennen; ich nenne den Zufall lieber Zufall.

Zufällig doch noch an diesem Abend weggegangen zu sein, und dann auch noch in diese Bar, die man eigentlich nicht mochte, um dort die Frau zu finden, mit der man dann sein halbes Leben verbringt und drei rotzfreche Versager in die Welt setzt, birgt zugegebenermaßen ein enormes Potenzial an Romantik. Da Romantik keine Pick-Up-Abkürzung hat, werden einige Profi-Casanovas bei dem Wort entweder Fragezeichen in den Augen haben, oder angeekelt zusammenzucken. Ich glaube Romantik spielt eine große Rolle und wird im Pick Up fast genauso konsequent ignoriert wie Humor und Charme. Statt sich über Romantik Gedanken zu machen, kümmern sich die meisten lieber weiter bei McFIT um ihre Oberschenkelmuskulatur. Das ist anscheinend, was Frauen angeht, zielführender und ausserdem weit weniger schwul. Das gemeine an Romantik in Verbindung mit Zufall ist nämlich, dass man es im Gegensatz zur Oberschenkelmuskulatur nicht trainieren kann, sondern erkennen muss. Man muss ein Gefühl dafür haben, ähnlich wie bei Humor und Charme. Daher sind diese Sachen beim Verführen von Frauen ja offensichtlich auch so total unwichtig.

Der Zufall ist bekanntlich eine dumme Sau und kommt daher meistens, wenn wir ihn nicht erwarten und auch gar nicht brauchen. Dass uns die Frau unseres Lebens gegenübersteht, während wir eigentlich schon mit einer anderen verheiratet sind und ausserdem auf dem Weg zur Arbeit, muss man erstmal erkennen können und wollen. Wer es dann auch noch schafft, völlig needy und ohne zu Zögern alles zu riskieren, um diese Frau zu erobern, der hat die Chance, die Art von Beziehung zu führen, die leider nur wenige in ihrem Leben ein Mal erleben dürfen.

Der Zufall lässt sich nicht beeinflussen. Aber er lässt sich erkennen oder nicht und nutzen oder nicht, und genau das ist die große Kunst. Das Mädchen deiner Träume lässt sich nicht erzwingen, indem du den kompletten scheiß Alexanderplatz mit deinem neuen Opener nervst. Aber wenn es neben dir in der U-Bahn sitzt, liegt es an dir, den Zufall zu erkennen und sie anzusprechen. Dann wirst du wahrscheinlich etwas zittern, total peinlich schwitzen und völlig uncool wirken. Du wirst dein Herz laut in deinem Kopf schlagen hören, bevor du einen Ton rausbekommst. Deine Stimme wird seltsam wackelig klingen und du wirst den größten Scheiß der Welt erzählen, weil du so aufgeregt bist. Und wenn sie wirklich cool ist, wird sie das erkennen und sie wird es romantisch finden. Weil es romantisch ist. Genau diese Romantik lässt sich übrigens ziemlich leicht töten. Und zwar genau dann, wenn dieses Mädchen die Nummer 32 ist. Wenn du vor ihr dem Mädchen Nummer 31, fünf Meter weiter, den gleichen Dreck erzählt hattest, und du direkt nach ihr die Nummer 33 ansprechen wirst, bevor du kurz bei McDonalds Sarging-Pause machst. Dann wird in eurem Gespräch genau das fehlen, was du leider nicht mit deinem Coach üben konntest. Und ausserdem wirst du irgendwann mal deinen Coach anrufen müssen, damit er euren Kindern erzählt, wie du an dem Tag Mutti als 'Nummer 32' angetextet hattest.

Der Zufall hat selten einen sicheren Rhythmus, und so wie du eben nicht jedes Jahr einen wirklichen Freund findest, so findest du auch nicht jedes Jahr eine Freundin. Das ist nicht schlimm, sondern normal. Wäre es wirklich so leicht, seine Traumfrau zu finden, würde nicht ein kleines Grüppchen von Freaks den Alexanderplatz leersargen, dann würde nicht eine kleine Internet-Community an neuen Openern basteln, sondern jeder Single-Mann der Welt würde im nächsten Kaufhaus nach einer weiblichen Meinung zur nahegelegensten Postfiliale fragen.



Quod est dubitandum!


Ich hatte also vor einem Jahr einiges vergessen bei meiner kleinen Rechenaufgabe zum Thema Dating und Pick Up. Ich hatte unter anderem vergessen, dass vielleicht gar nicht die Anzahl der Frauen entscheidend ist, die man kennenlernt, und auch nicht das dumme Gelaber, das man sich überlegt, vor oder während man mit ihnen spricht, sondern die Zeit, die man vorher mit sich selbst verbracht hat, oder die Einstellung, die man ihnen gegenüber hat, oder die Einstellung die man sich selbst gegenüber hat, oder das komische Grummeln, wenn sich das Mädchen in der U-Bahn plötzlich neben dich setzt, oder einfach, dass du den Zug davor ganz knapp verpasst hattest. Und wirklich wichtig ist am Ende eben nur, einzig und allein, dass du kurz allen Mut zusammen nimmst, und anfängst mit ihr zu reden.

Zumindest wenn es um die Zeit mit mir alleine geht, bin ich schon lange überfällig. Mein Gequatsche ist angeblich halbwegs zu ertragen, meine Einstellung gewöhnungsbedürftig, aber nicht boshaft, mein Magen grummelt ständig und ich bemühe mich so viele U-Bahnen wie möglich zu verpassen. Ich wäre dann soweit. Wenn also das nächste Mädchen in meinem Leben nicht der verdammte Oberhammer ist, bekommt der liebe Zufall von mir eventuell wirklich mal ein paar aufs Maul.



Elia