Es ist der erste Januar 2014 und Michael Schumacher liegt im Koma.
Das ist mir allerdings scheißegal. Genauso scheißegal ist es mir,
dass ein fetter Kerl beschlossen hat, den Brustkrebs seiner Frau als
Werbegag an die Telekom zu verticken. Alles Arschgeigen da draussen.
Gott bin ich froh, dass ich keinen Fernseher hab. So muss ich
wenigstens nur dafür bezahlen, dass der Kot produziert wird, aber
fühle mich nicht auch noch verpflichtet, hinzusehen wenn man ihn uns
vorführt. Ich klicke diese komische Fernseh-Website wieder zu. Es
ist 12:30Uhr und ich bin wach. Ich war um 7:00Uhr im Bett und habe
somit halbwegs ausgeschlafen. Ich habe keinerlei Kater, was wohl
daran liegt, dass ich mir gestern Nacht durchgehend frustrierend
nüchtern vorkam. Nüchternheit kann in manchen Momenten im Leben
eines Mannes eine wirklich herbe Enttäuschung darstellen. Ich stehe
auf und mache mir einen Kaffee. Ich kann mich an jede Sekunde der
gestrigen Nacht erinnern. Kein Kater. Kein Blackout. Kein Exzess. Das
ist neu. Das ist neu. Hurra, Hurra die Schule brennt.
Vincent kam gestern um 21:00 zu mir. Ich habe beschlossen ihn ab
jetzt Vincent und nicht mehr 'Wing2' zu nennen. Ich habe überhaupt
beschlossen, mit diesem beknackten Pick-Up-Sprech aufzuhören. Das
ist ja scheiß-peinlich. Wie Kleinkinder, die über ihre
Action-Figuren reden und kein Schwein versteht ein Wort, weil niemand
alle Folgen ihrer Epileptiker-Sendung im Fernsehen dazu kennt.
'Wing2'....als hätten wir uns auch nur ein einziges mal 'gewingt'...
Ich hab ihm mal nen Approach...ä …oh – dafür gibt’s kein
gutes Wort - ...ach scheiß drauf, ich hab ihm mal nen Approach
versaut. Das war's aber auch schon zum Thema 'Wing'. Jedenfalls kam
Vincent um 21:00Uhr zu mir. Ich hatte gekocht und Kerzen angemacht
und er hatte Raketen gekauft. Alles könnte so einfach sein, wenn man
nur schwul wäre. Nach dem Essen gab's lecker Alkohol. Wodka. Immer
abwechselnd mit Espresso. Man ist halt keine 20 mehr, und nach dem
guten Essen will man eigentlich ja in seinem Sessel einschlafen. Aber
nix da!
Ich hatte am Samstag schon ohne Erfolg versucht meine beginnende
Erkältung mit kalter Luft, lautem Punkrock, Zigarettenrauch und viel
Alkohol los zu werden. Hatte nicht funktioniert. Ich werde die
Versuchsreihe dazu trotzdem nicht aufgeben. Ich bin von der heilenden
Wirkung dieser Kombination immer noch fest überzeugt. Jedenfalls saß
ich Vincent, mit roten Augen und roter Nase, gegenüber und schniefte
in meinen Schnaps, während er mir seinen üblichen Neujahrs-Blues
vortrug: Das Leben ist kurz und ungerecht. Die Frauen sind hässlich
oder doof. Und der Gin schmeckt nicht, mit dem billigen Bitter-Lemon
von LIDL. Ich hörte es mir an, wie man das von einem guten Freund
erwartet, und sorgte gleichzeitig für permanenten Nachschub an
Espresso und Wodka.
Um Mitternacht standen dann zwei Löwe-Singlemänner, einer Mitte
Dreißig, einer Mitte Vierzig, auf einem kleinen Balkon in Berlin und
schossen abwechselnd 'Horoskop-Raketen' auf LIDL um sich für den
beschissenen Gin zu rächen. Als wir damit fertig waren, schoss sich
Vincent bei der Gelegenheit auch gleich noch endgültig selbst mit
einem großen Glas Wodka/Sekt ins Off. Prost. Danach stand er
kichernd und besoffen vor meinem mp3-Player und spielte alte
Depeche-Mode-Songs, während ich versuchte, diverse
Privat-Party-Optionen abzutelefonieren, um herauszufinden, welche die
beste sei. Wir entschieden uns für eine Party in einem kleinen Club
in Neukölln.
Um 2:30Uhr verließen wir meine Wohnung und standen erstmal direkt
auf einem Mini-Rave im Treppenhaus. Die Silvester-Party der
Mädchen-WG neben mir schien sich wohl mit der Party der Jungs-WG
unter mir im Treppenhaus zusammen geschlossen zu haben. Die drei
Stockwerke bis nach unten waren jedenfalls ein Slalom, vorbei an
betrunkenen Menschen, leeren Flaschen und Erbrochenem. Ich musste
Vincent nach jeder Treppe daran erinnern, weiter zu gehen, weil er in
seinem Zustand jeden, der ihm begegnete, anquatschte. Und genau
dieses Programm zog er auch den kompletten Weg, inklusive
U-Bahn-Fahrt, bis zur Party in Neukölln durch. Ich musste ihn von
einigen Mädchen-Gruppen fast wegzerren. Jeder Pick-Up-Coach wäre
stolz auf ihn gewesen. Alkohol ist eben der eigentliche Zaubertrank
der sozialen Interaktion. Scheiß auf Inner-Game!
Als wir auf der Party ankamen war mir immer noch schlecht von der
U-Bahn-Fahrt. Vielleicht war es auch meine Erkältung. Oder die zwei
Liter Espresso-Wodka-Mischung in meinem Magen. Es war eine Gruppe
alter Schulfreunde von mir dort, einige aus Amsterdam und Istanbul
angereist, manche hatte ich weit über ein Jahr nicht gesehen. Ich
lies mich einmal rumreichen und von jedem drücken und landete
schließlich an der Bar. Ich bestellte Bier, um meinen Magen zu
beruhigen. Eigentlich hätte ich doch Arzt werden sollen. Der Club
war gerammelt voll und die, wohl hauptsächlich zugezogene,
Studentenschaft heftig am feiern und tanzen. Es lief
Old-School-HipHop. Ganz was verrücktes.
Vincent bestückte sich mit einem großen Wodka mit Eis und hing
direkt am ersten Mädchen. Ich stand mit meinem Bier an der Bar und
fragte mich, was heute denn mit mir los sei. Ich fühlte mich nicht
nur krank sondern auch nüchtern. Eigentlich eine besonders gemeine
Mischung. Ich bewegte mich ein wenig zur Musik, kam aber überhaupt
nicht in Partystimmung. Nach ein wenig Small-Talk auf der Tanzfläche
zog ich mich wieder an die Bar zurück. Die Nacht schien langsam zu
kippen. Normalerweise hätte ich mit einer Alkohol-Dosis-Steigerung
reagieren können, aber selbst darauf hatte ich nicht wirklich Lust.
Ich stand weiter an der Bar und beobachtete still das bunte und laute
Treiben um mich herum. Ich hatte kurzzeitig das Gefühl, alle würden
ein Stück von mir zurückweichen, ich fühlte mich nicht richtig
anwesend, und selbst die laute Musik und das Geplapper der Leute kam
mir plötzlich extrem leise und gedämpft vor, als würde ich einen
Film ohne Ton sehen. Ich sah ein Pärchen vor mir an der Bar wild
knutschen und hinter ihnen die Hände der tanzenden Meute in der
Luft. Ich entdeckte Vincent am anderen Ende der Bar im innigen
Gespräch mit einem anderen Mädchen. Alles war irgendwie surreal und
weit weg. Ich wurde kurz ganz ruhig und entspannt und fand alles
richtig und gut um mich herum. Ich fühlte mich irgendwie 'NICHT' –
weder gut noch schlecht – einfach 'NICHT'. Normalerweise hätte ich
den Drang verspürt, mit zu machen, zu trinken, zu tanzen oder Frauen
anzusprechen, ein Teil zu sein von dem großen, sozialen Autoscooter
um mich herum. Für den Moment hatte ich auf nichts davon Lust und es
war komischerweise auch mal völlig in Ordnung so.
Als die Musik wieder lauter wurde, war mein Bier leer. Ich
bestellte mir ein neues und gesellte mich zu einem Freund, an den
Rand der Tanzfläche. Vincent kam noch einige Male vorbei, wippte ein
wenig mit und beschwerte sich über die Damenwelt: „Was soll der
Mist? Wieso haben die eigentlich alle einen Freund oder sind
verheiratet? Und wenn die alle so glücklich und vergeben sind, warum
sind sie dann nicht gefälligst zuhause und vögeln?“. Er wirkte
ungewöhnlich aufgedreht und voll auf sein Ziel – Frauen -
fokussiert.
Um 5:00Uhr hatte Vincent, nach eigenem Bekunden, jede
interessante Frau im Club angesprochen. „Der Laden ist verbrannt“
meinte er kurz und unbefriedigt. Er wollte weiterziehen. Mir war es
egal und so einigten wir uns darauf, uns wieder in die U-Bahn zu
begeben und in unser gewohntes Revier zu fahren. Dort angekommen,
hatte Vincent Hunger und wir gingen in unsere Lieblingspizzeria. Ich
war inzwischen derart nüchtern, dass ich es kaum glauben konnte, und
mir war klar, würde ich jetzt auch noch etwas Warmes essen, so wäre
die Nacht für mich gelaufen. Wir aßen und amüsierten uns über den
lautstarken Kampf der übermüdeten Pizza-Jungs mit dem betrunkenen
Berliner Partyvolk.
Danach verabschiedete ich Vincent in die Nacht. Mir war völlig
klar, dass er in den nächsten Club ziehen würde. Er war noch nicht
fertig mit Silvester und den Frauen. Ich wollte in mein Bett. Und das
zum ersten Mal seit langem, weder auf diese betrunken-kollabierende
noch auf diese frustriert-unzufriedene Weise. Ich fand es völlig in
Ordnung, entspannt nachhause zu gehen, statt noch eine Bar und noch
einen Club, und darin mein 'Glück', zu suchen.
Zuhause angekommen war das Treppenhaus ein Schlachtfeld. Konfetti,
Luftschlangen, Bierflaschen und einiges Unaussprechliches zierten die
Stufen bis zu meiner Wohnungstür. Die Tür der WG unter mir, und die
Tür der Mädchen-WG standen offen und dumpfes Techno-Gewummer kam
aus beiden Wohnungen. Nein, auch das wollte ich mir nicht ansehen.
„Man muss seinen Nachbarn ja auch noch mal in die Augen sehen
können“ dachte ich mir, und dafür sollte man es vielleicht
vermeiden, ihnen morgens um 7 auf Drogen, oder kotzend über ihrer
Kloschüssel, zu begegnen. Verdammt! Geht es jetzt los? Werde ich
jetzt doch noch erwachsen?
Gegen 15:00Uhr meldete sich heute Vincent bei mir. Ich war bester
Laune und gerade damit fertig geworden, meine Küche zu wischen und
meine Wohnung aufzuräumen. „Guten Morgen“ krächzte er in den
Telefonhörer. Wie es denn noch gelaufen sei, fragte ich und nippte
an meinem Kaffee. Er erzählte mir kurz von dem kleinen
Techno-Schuppen in dem er gestrandet sei. 'FICKN' sei dort in großen
Buchstaben, aus silbernen Luftballons, über der Bar gestanden. Das E
war schon zerstört gewesen. Aber der Club hatte nicht halten können,
was die Luftballons versprachen. Weder Ficken, noch Fickn war für
ihn drin gewesen. Beziehungsweise, drin wäre es wohl schon gewesen,
aber die zwei Mädels, die ihn dort noch morgens um 9 angetanzt
hätten, wären ihm einfach zu durch und zu kaputt gewesen. Er hatte
sie der Meute und der Nacht überlassen. Oder wem auch immer.
Ich bin heute den ganzen Tag nicht wirklich dahinter gekommen, ob
es nur meine Erkältung war, die mir so die Energie genommen hatte,
oder ob dieser ganze Club-Kram einfach von mir letztes Jahr etwas
überstrapaziert wurde und daher stark an Reiz eingebüßt hat.
Eigentlich ist es auch egal. Ich habe mich gestern Nacht, ganz ohne
Vollrausch und ohne Frau, ziemlich zufrieden in mein Bett gelegt.
Eigentlich deutlich zufriedener als in vielen Nächten davor. Das
könnte ja auch eine Verbesserung sein. Scheiße, oder ich werde echt
erwachsen!! Ich sollte das doch lieber beobachten. Wenn es nicht
wieder anders wird, muss ich es wohl mit kalter Luft, lautem
Punkrock, Zigarettenrauch und Alkohol behandeln. Mit solchen
Alterserscheinungen ist nicht zu spaßen.
Ich wünsche euch allen ein großartiges 2014!
Elia
Hi Elia,
AntwortenLöschenEs ist immer wieder ein genuss dein blog zu lesen. Dein schreibstil trifft genau meinen geschmack :).
Als ich über dein erlebnis über den nüchternen besoffenen gelesen habe, konnte ich es kaum glauben. Es erging mir ebenso. Egal wieviel barcardicola ich in mich an silvester hineingeschüttet habe, Ich bin über einen leichten rausch nicht hinausgekommen und auch der schwenk auf vodka hat daran nichts ändern können. Als ich meine feierfreundin zu meinem unsäglichen zustand befragte, bestätigte sich meine theorie. Ich hab eine bacardi resistenz aufgebaut die verhindert in jenen magischen zustand zu kommen wo mir alles egal ist, ich noch halbwegs bei verstand bin und dabei noch spass ohne ende habe. VERDAMMT.
Zu deinem NICHT zustand kann ich nur sagen. Ich liebe es ihn zu haben und auszukosten solange ich ihn habe. Das ist für mich das nonplusultra. Warum? Weil ich genau in diesem kleinen zeitfenster eine totale freiheit erlebe die nicht von meinen gefühlen gedanken beeinflusst ist. Eine klarheit die mir erlaubt mich selber mal so zu sehen wie ich wirklich bin oder was ich wirklich will ohne das störende rauschen der welt oder meines verkorksten verstandes zu hören.
Lg jakob
Hallo Jakob,
LöschenVielen Dank für die Blumen!
Ich habe mit Vincent neulich nochmal über meine schockierende Nüchternheit an dem Abend gesprochen. Auffallend war ja auch, wie besoffen im Vergleich dazu er war. Wir haben spekuliert, ob sich das vielleicht auch bedingt. So dass eventuell immer einer in der Gruppe unbewusst die "Mutti" spielt, um aufzupassen, und die anderen sich dann erst recht gehen lassen... Wäre ne mögliche Erklärung...
Elia
Ohh man da hast du mir jetzt echt bilder in den kopf gesetzt. Stelle mir grade vor wie du ins taschentuch spuckst um vincent nen fleck von der backe zu wischen und das während er approacht :D. Und am besten noch mit den worten: ehh warte mal. Du hast da was. Ich will das eben nur wegmachen. xDxDxD
AntwortenLöschenSry das musste ich loswerden auch wenns von der thematik nicht so ganz hier rein passt ;)
:D ...schönes Bild, ja! Ich werde ihm das für den nächsten Abend mal vorschlagen!
Löschen